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Wie Herr Schnabeltasse zum aficionado, zum Flamenco-Begeisterten wurde

Herr Schnabeltasse ist niedergeschlagen und ganz schlechter Laune. Die Angst, Schneewittchen nicht mehr wiederzusehen, preßt ihn. Und wieder erinnert er sich des Rats, den ihm der Psychologe gegeben hat: „Gehen Sie raus, nehmen Sie die Dinge in die Hand.“

So bucht er kurzentschlossen für das folgende Wochenende eine viertägige Reise nach Sevilla mit Halbpension und, als Höhepunkt, einer „Flamenco-Show“ mit „echten Gitanos“ wie es in der Werbung heißt.

Am dritten Tag in Sevilla ist er von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit unterwegs gewesen und hat, als er abends ins Hotel zurückkehrt, sehr heftigen Hunger. Heute findet das festliche Diner mit Flamencodarbietung statt. Herr Schnabeltasse nimmt an, ein festliches Abendessen werde einige Zeit in Anspruch nehmen. Wenn die Flamencoschau um zehn Uhr stattfindet, dann wird das Diner wohl um sieben Uhr beginnen. Ordentlich mit seinem neuesten Tweedsakko zurechtgemacht, findet er sich daher pünktlich am Festsaal ein. Dieser ist noch verschlossen. Die Aushilfe am Empfang kann kein Englisch; Herr Schnabeltasse kein Spanisch. Er bricht die Verständigungsversuche ab und denkt sich, es werde wohl, wie in feinerer Gesellschaft üblich, erst um acht Uhr losgehen. Trotz seiner müden Füße begibt er sich noch auf einen kleinen Spaziergang.

Um acht Uhr findet er den Festsaal geöffnet vor. Vier Männer in Overalls bauen gerade ein Podest auf. Ein stämmiger junger Mann mit einer abstehenden krausen Mähne ist mit der Verkabelung einer Musikanlage beschäftigt. Es schüttelt unablässig den Kopf und redet vor sich hin. Ein langer, bleicher, sehr hagerer Mann mit beginnender Halbglatze und öligen, lang in den Nacken zurückgekämmten Haaren, schleppt ächzend Lautsprecher. Tische und Stühle werden auf Rollgestellen herbeigekarrt. Herr Schnabeltasse entdeckt unter den Arbeitern den Kellner vom Frühstück heute morgen, der Englisch spricht und fragt ihn, wann es losgeht. Um zehn Uhr, wie angekündigt, bekommt er zur Antwort.

„Ja aber das Essen, das wird doch vor der Show stattfinden, oder nicht?“

„Ten o’clock dinner; five courses; then show“, bekommt er zur Antwort. Ein Mißverständnis wähnend, fragt er in seinem besten Schulenglisch präzise nach: „At what time does the show begin?“ Der Kellner dreht seine gespreizte Hand nach rechts und links, zieht eine Miene der Ungewißheit und sagt: „About one o‘clock?“

„One o’clock!“, erschrickt Herr Schnabeltasse. Der Kellner bemerkt seine Verstörung und lacht: „¡Hombre! This is Spain!“

Um zehn Uhr gibt es im prächtig hergerichteten Festsaal einen Empfang mit Cava und kleinen Canapés. Herr Schnabeltasse hat Glück und bekommt einen Platz an einem der runden Tische in der ersten Reihe vor der Bühne zugewiesen. Rechts neben ihm sitzt ein spanisches Ehepaar, das ungefähr in seinem Alter ist und auch gut Englisch spricht. Das Essen zieht sich hin. Herr Schnabeltasse verspürt zwischendurch öfter Müdigkeit, die charmante Unterhaltung mit seinen Tischnachbarn, einem Arztehepaar aus Madrid, belebt ihn immer wieder. Kurz vor halb zwei am frühen Morgen werden endlich Kaffee und Cognac gereicht und die Flamencoschau beginnt. Die Musiker legen los, alle drei sind in schwarze Anzüge mit bunten Rüschenhemden gekleidet. Die beiden Gitarristen und ein Mann, der auf einer Holzkiste sitzt und den Rhythmus schlägt, lockern die Stimmung auf.

Dann tritt ein Sänger mit Doppelkinn und einem Dreitagebart, der eher nach Achttagebart aussieht, herzu und hebt mit heiserer Stimme, aber unbestreitbarer Inbrunst, zu singen an. Herr Schnabeltasse weiß nicht so recht, ob ihm das gefällt. Die Gesichter seiner Tischnachbarn zeigen keine Reaktionen. Der nun folgende Auftritt der Tänzerin läßt das Publikum, mehrheitlich Deutsche und Amerikaner, toben, schon bevor sie überhaupt zu tanzen angefangen hat. Im roten Kleid mit großen schwarzen Punkten sechs Reihen Volants und einer Stola sowie wallendem schwarzen Haar betritt sie die Bühne und schaut unnahbar über ihr Publikum hinweg. Einige Männer, beschwingt durch die das Essen begleitenden Weine, geraten fast außer sich. Herr Schnabeltasse dagegen ist befremdet, fast schon bestürzt ob dieser Zumutung. Die grell geschminkte Frau, nicht mehr jung und noch nicht alt, trägt an ihrem großen Mund ein paar Lippen zur Schau, die Herrn Schnabeltasse an etwas zu klein geratene Frankfurter Würstchen erinnern, aber so unnatürlich wirken, daß sie für ihn so gar nichts Schmackhaftes haben. Ihr Busen, fest und steif, und so groß, daß eine Fußballmannschaft aus Playmobilfiguren samt einem eitlen Oberbürgermeister auf dem Balkon Platz finden könnten, wird immer wieder aus der Seitenansicht zur Geltung gebracht, was zu Beifallsstürmen führt. Sie tanzt und stampft, schlenkert ihre Arme, wirbelt ihre Stola herum. Herrn Schnabeltasse lässt dies alles kalt, es ergreift ihn nicht. Dann tritt noch ein Tänzer hinzu, es ist der Hagere mit den langen, öligen Haaren. Er stampft noch heftiger als die Frau, wirbelt seine Spinnenarme wie Windmühlenflügel in der Mancha herum, verharrt ab und zu für kurze Zeit in anzüglichen Posen und guckt so feurig als er nur irgend kann.

„Vámonos“, sagt der Arzt aus Madrid zu Herrn Schnabeltasse. Wir gehen woanders hin. Wir kennen ein sehr gutes Flamenco-Lokal. Diese Vorführung ist furchtbar schlecht. Es ist uns peinlich, Ihnen als Ausländer so etwas zu bieten.“

„Ja, aber es ist doch schon kurz vor zwei. Das andere Lokal wird doch längst geschlossen haben.“

„Seien Sie beruhigt. Im tablao geht es gerade erst richtig los. So wie ich Sie einschätze, wird es Ihnen gefallen.“

Obwohl er ziemlich müde ist, geht Herr Schnabeltasse mit. In gewisser Weise fühlt er sich beleidigt, dass man ihn mit so etwas Schlechtem, Ordinären behelligt.

Im tablao finden Sie mit Mühe und Not noch drei Sitzplätze. Die Vorstellung hat schon begonnen und als erstes hören sie einen Sänger dessen Stimme ebenso heiser wie die des anderen im Hotel ist, deren Ausdruckskraft aber Herrn Schnabeltasse Schauer über den Rücken laufen läßt. Der Schmerz, der zum Ausdruck kommt, erinnert ihn an seinen eigenen Schmerz und an seine Unsicherheit wegen Schneewittchen, dass ihm Tränen in die Augen treten. Beim nächsten Stück tritt neben dem Sänger eine Tänzerin auf, eine Dame, die die sechzig wohl schon überschritten hat, mit streng nach hinten gekämmtem zu einem Knoten gebundenen Haar. Langsame Schritte und Bewegungen wechseln mit furiosen Sequenzen. Stolz und doch unprätentiös trägt sie ihre Kunst vor. Herr Schnabeltasse muß die ganze Zeit an Schneewittchen denken und stellt sich vor, sie könnte das sicher auch. In einer Mischung aus Trost und Trauer schaut er sich ergriffen die Darbietungen an und kehrt mit übervollem Herzen erst um fünf Uhr morgens wieder ins Hotel zurück.

Die Nagelschere

Verrat ist schändlich. Und mit einem Verrat an meinen Mitschülern führte ich mich im Herbst 1969 in die O III a ein.

1969 – den Jüngeren sei dies erklärt – waren lange Haare bei den Jugendlichen nicht nur beliebt, sondern unabdingbar, wenn man dazugehören und ernstgenommen werden wollte. Ich allerdings, der Neue in der Klasse, trug keine Beatles-Frisur, wie manche damals noch sagten. Ich trug einen Mecki, also ganz kurze Haare, die igelmäßig wie Stacheln abstehen; wie bei der Comic-Figur Mecki eben. Ein Meckikopf schloß eine Einladung zu Parties bei denjenigen, die in der Klasse den Ton angaben, unbedingt aus. Allein, einen kleinen Vorteil verschaffte mir mein Haarschnitt doch. Einige Mädchen liebten das Gefühl, mir mit der flachen Hand gegen den Strich über den geschorenen Kopf zu streichen. Ich hielt immer ganz still.

Nur langhaarige Jungs wurden von den Erwachsenen, vor allem durch die Männer, verächtlich als „Langhaarige“ bezeichnet (die Verwendung des Begriffs „Gammler“ war damals schon im Rückgang begriffen). Als mutmaßlich haschischrauchende Kommunisten (nun ja, wie dies mit Vorurteilen so ist – gelegentlich enthalten sie ein Körnchen Wahrheit, manchmal auch mehr) wurden sie als außerhalb jeder sittlichen Ordnung stehende Spezies betrachtet. Mädchen kamen ungeschoren davon (man wird später sehen, das Bild ist durchaus nicht schief). Langhaarig war man spätestens dann, wenn der Kopfbewuchs die Ohren bedeckte und im Nacken bis zum Kragen reichte. (Damals trug man noch Hemden in der Schule, die einen Kragen aufwiesen und so eine klare Grenze setzten, keine amerikanischen Unterhemden).

Fettige Haare waren zwar seinerzeit unter Jugendlichen äußerst verpönt. Dies hielt böswillige und übelmeinende Erwachsene indes nicht davon ab, lange Haare bei Knaben und jungen Männern mit fehlender Körperpflege und Läusen in Verbindung zu bringen.

Nach diesem Rückblick auf gesellschaftliche Zeitgeschichte als Exposition komme ich zum Verrat.

Direktor Dr. Schmidt war ein Erwachsener seiner Zeit. Die vermeintlicherweise oder tatsächlich mit üppigem Kopfbewuchs verbundenen Ansichten politischer und gesellschaftlicher Art waren ihm ein Greuel, weswegen er als nächstliegende Maßnahme danach trachtete, seine Schule von langhaarigen Jünglingen reinzuhalten. Sein pädagogisches Konzept, wenn man es denn so bezeichnen möchte, war einer vergangenen Epoche entsprungen. Die Methode, Macht durch das Erzeugen von Angst durchzusetzen, ist allerdings zeitlos.

Letzteres war seine pädagogische Krücke. Wenn er leise in eine Klasse trat, vergingen auch noch dem kecksten Schüler die frechen Späße. Manche hielten sogar den Atem an. Sein strenger Auftritt war zwar im Verbund mit seiner schnarrenden Stimme im Grunde eher lächerlich, aber das fiel uns damals nicht auf.

Eines Tages, im Herbst 1969 also, trat er in unsere Klasse. „Sitzenbleiben!“ Der Ruf genügt als Gruß. Hohe Nervosität herrschte bei den langhaarigen Schülern. Hektische Aktivitäten fielen auf. Haare wurden hinter Ohren drapiert, unter Hemdkragen gestopft.

Es ist mir bis heute unergründlich geblieben, warum ich an jenem Tage ein kleines Lederetui mit einer Nagelschere in meiner Schultasche mit mir führte. Es war mein erstes Erlebnis des Schmidt’schen Horrorstücks „Auftritt in einer Klasse“. Ich gebe zu, auch mir war der Mund trocken. Dr. Schmidt schnarrte, nachdem er auf das „Sitzenbleiben!“ eine angemessene und wirkungsvolle Pause hatte eintreten lassen: „Hat jemand eine Schere dabei?“ Er hatte dies sicher als rhetorische Frage gemeint und nicht damit gerechnet, eine bejahende Antwort zu erhalten. Ich tumber Knabe indessen dachte nicht weiter als meine Stoppelhaare reichten und kramte eilfertig meine Nagelschere aus der Tasche. Da ich in der letzten Bank saß, sah keiner meinen schamvoll erröteten Kopf, als bei mir endlich der Groschen gefallen war und ich zusehen mußte, wie Dr. Schmidt, dem ja nichts anderes übrig blieb, im Klassenzimmer nach vorne zur Tat schritt und zwei oder drei Mitschülern am Hinterkopf ein Büschel Haare absäbelte. Er stellte sich nicht besonders geschickt an, nahm zu viele Haare auf einmal in den Griff und die Schere war wohl auch etwas stumpf. Jedenfalls muss es für die Opfer schon etwas schmerzhaft gewesen sein.

Es hat mich keiner deswegen verprügelt, aber die Scham ist mir bis auf den heutigen Tag geblieben, und ich weiß auch, keiner aus der Klasse hat den Vorfall je vergessen.

Zur Strafe begann bei mir bereits ein Jahr später schon der Haarausfall, während einer der Beschnittenen, mit dem ich heute noch Kontakt habe, immer noch einen dichten Haarschopf trägt.

Und Dr. Schmidt? Was er tat, war auch damals schon verboten. Es hat ihn keiner angezeigt. Doch er trug nicht den Sieg davon. Sein Spiel mit der Angst war nicht nur lächerlich, wenn er meinte, Vierzehn- und Fünfzehnjährigen nicht anders beikommen zu können. Er war kein Herakles, sein Kollege Dr. Heckmann war auch kein getreuer und hilfswilliger Iolaos und so überwand er die Hydra der Langhaarigen nicht. Sie vermehrten sich schließlich kaninchengleich und, wie dies in der Natur so zu geschehen pflegt, irgendwann hat sich das Langhaarige in der Männermode dann von selbst reguliert.

Fast möchte ich unseren Direktor als tragische Figur bezeichnen. Damals freilich fürchteten wir ihn nur, er erregte nicht unser Mitleid. Im Abstand von über einem halben Jahrhundert sehe ich indessen den Vertreter einer Generation, der, als er wenige Jahre später starb, eine schon lange untergegangene Welt mit sich ins Grab nahm. Sein Versuch, sich dem Wandel entgegenzustemmen war sinnlos gewesen.

Matthias Alexander Wolf

Bad Homburg vor der Höhe, im Juni 2023

Peter Hoffart

Die „Geschäftsleute“ Krzysztof Krupniak und Radoslaw Kleinert treffen sich nach Jahren wieder in Schlesien, in dem Ort, aus dem sie beide stammen, an einer Tankstelle.

Krzysztof Krupniak fuhr gerne zum Tanken. Es gab ihm jedes Mal ein gutes Gefühl. Hier war er aufgewachsen, man kannte ihn. Oft traf er einen Freund oder Bekannten, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Er war vorher noch zum Barbier gegangen, hatte sich seinen Bart stutzen und sein Haupthaar hochrasieren lassen. Eine Duftwolke umhüllte seine teigige Gestalt, als er sich auf das Kabuff zuwälzte, um seine Tankfüllung zu bezahlen. Wenn er seine Mutter besuchte, tankte er immer hier bei Radoslaw Kleinert mitten im Ort. Kleinert schraubte meistens an irgendeinem Gebrauchtwagen herum, kam aber stets auf ein Schwätzchen aus der Werkstatt, wenn er mitbekam, dass Krupniak da war und bei seiner Frau in der Baracke zahlte. Kleinert war klein und drahtig, etwa vierzig Jahre alt. Jahrein jahraus trug er denselben Overall, dessen Farbe nicht wiedergegeben werden kann, da der Arbeitsanzug aus einem einzigen Schmierölflecken bestand, der nur hie und da Reste des eigentlichen Gewebes durchscheinen und eine Farbe erahnen ließ, die vielleicht einmal Dunkelblau hätte sein können. Die Farbe seiner Hände stand im Einklang mit seinem Arbeitsanzug. Wie ein Bergmann, der sich am liebsten mit kohlenstaubverschmiertem Gesicht ablichten lässt, trug auch Adam sein schmutzig-öliges Äußeres mit Stolz als Merkmal eines tüchtigen und geschickten Mechanikers, der sich nicht scheut, sich die Hände schmutzig zu machen. Saubere Hände hatte er nur einmal im Jahr, nämlich am Ende seines einwöchigen Urlaubs, den er mit seiner zehn Jahre jüngeren, etwas drallen, aber hübschen Frau Elżbieta in einer Ferienanlage, die noch aus Zeiten des Sozialismus stammte, an der Ostsee verbrachte. Seinem Schwager, der ihn an der Tankstelle solange vertrat, traute er nicht. Er nahm seine sauberen Hände als Zeichen, dass er wieder zur Arbeit müsse und gegen den heftigen Protest seiner Frau, die jedes Mal das Zimmer für zwei Wochen reserviert hatte, reisten sie ab.

Überhaupt, seine Frau Elżbieta. In ihrer Jugend war sie die Rummelplatzkönigin des ganzen Bezirks gewesen, die es nicht so genau nahm und hinter den Schaustellerbuden die Jungs ranließ. Man schrieb Radoslaw besondere Qualitäten in dieser Hinsicht zu. Sein Äußeres konnte es nicht gewesen sein, was Elżbieta dazu bewegte, mit ihm vor den Altar zu treten, denn er hatte um das Kinn herum faltige, pergamentartige Haut, die davon herrührte, dass ihm als Lehrling ein Geselle einen Streich gespielt hatte. Als Kleinert sich gerade über einen Motorblock gebeugt hatte, hatte der Geselle den Kühlerdeckel geöffnet und das herausschießende kochende Wasser hatte Adams Haut abgelöst.

Im Dorf ging die Rede von beträchtlichem Vermögen Radoslaw Kleinerts, der neben Tankstelle und Werkstatt auch noch zwei Lastwagen besaß für die er als Fahrer zwei Weißrussen angeheuert hatte. Man sprach davon, Kleinert nähme es nicht so genau und würde kein gewinnträchtiges Geschäft ausschlagen.

Das Geld also, so stellten die maßgebenden Stimmen im Dorf fest, war es, was die Rummelplatzkönigin, die mit Mitte zwanzig ihren Zenit schon überschritten hatte, an den Altar brachte und nicht die Leibesfrucht, die sie trug, für die Kleinert keinesfalls die Verantwortung zu übernehmen gedachte, da er heftige Zweifel an seiner Vaterschaft hegte.

Eine kundige Frau in Kattowitz löste das Problem, noch bevor es offenkundig wurde. Kleinert übernahm die Kosten und passte seitdem sorgfältig auf, dass er im Wiederholungsfall wenigstens sicher sein könnte, zu Recht als Vater angesehen zu werden. Der Wiederholungsfall war in den zehn Jahren seither nicht eingetreten. Die kundige Frau aus Kattowitz war in der weiblichen Anatomie doch nicht so ganz sattelfest gewesen und hatte, nicht nur bei der Rummelplatzkönigin Elżbieta, sondern auch in zahlreichen anderen Fällen unabsichtlich in Überschreitung ihres Auftrages nicht nur das jeweils aktuelle Problem der Frauen gelöst, sondern auch dem Entstehen künftiger Probleme einen Riegel vorgeschoben.

Krupniaks Hemd in altrosa saß etwas knapp und ließ ihn wie eine überreife Brombeere wirken. Er selbst fand sich damit und in seiner weißen Hose todschick gekleidet, als er in die Kassenbaracke eintrat und dabei den Wagenschlüssel mit einem kleinen Goldbarren als Schlüsselanhänger schlenkerte, um zu zahlen und ein wenig mit Elżbieta zu schäkern. Sie war in seinem Alter und ihn verbanden mit ihr aus der Jugendzeit zwei oder drei brünstige Erlebnisse am Bahndamm. Die Tür war hinter ihm noch nicht ganz zugefallen, als Kleinert, sich den gröbsten Schmutz mit einem kaum noch aufnahmefähigen Lappen von den Händen reibend, hinzukam. Er traute weder dem Dickwanst noch seiner Elżbieta.

„Na Krupniak, wie gehts? Auch wieder einmal im Land?“

„Ich besuche meine Mutter. Sie hat am Samstag Geburtstag. Seit mein Vater gestorben ist, komme ich wenigstens alle Vierteljahre bei ihr vorbei.“

„Bleibst du länger?“

„Bis Ende nächster Woche. Ich habe in der Gegend noch ein paar Geschäfte zu erledigen.“

„Ich wollte auch noch etwas Geschäftliches mit dir besprechen.“

„Sag schon, was denn?“

„Nicht jetzt und hier.“

Elżbieta hinter der Kasse funkelte ihren Radoslaw an und schob ihr Kinn vor. Als sie mitbekam, wie sich die beiden für den nächsten Abend zu ihrer Geschäftsbesprechung in der „Crazy Bar“ verabredeten, verschwand sie mit einem heftigen Türknall im Nebenraum.

„Ich wüsste übrigens einen Käufer für deinen Bentley“, setzte Kleinert das Gespräch fort.

„Nein, nein, lass mal. Den Wagen behalte ich“, wehrte Krupniak ab, zahlte und ging.

„Bis morgen.“

„Ist wohl nur geleast!“, höhnte Kleinert. „Bis morgen!“

Die „Crazy Bar“ lag etwa einen Kilometer vom Dorf entfernt. Eine Seite des Parks des ehemaligen Herrenhauses grenzte an den Wald, im Übrigen war der Zamek, wie die Dorfbewohner das Anwesen nannten, von Äckern umgeben, ein ehemaliger Fischteich war versumpft. Nach dem Krieg hatte das Herrenhaus viele Jahre als Getreidespeicher gedient. Dann hatte es ein Investor übernommen, der wenigstens das Dach reparieren ließ und das Gebäude so vor dem Verfall rettete. Bevor er das Anwesen mit umliegendem Park und Äckern jedoch zu einem luxuriösen „Golf-Resort“ mit Hotel, „Spa“ und 18-Loch-Golfplatz ausbauen konnte, ging ihm das Geld aus. Die Liegenschaft wurde versteigert und wechselte danach auch noch zweimal den Besitzer, bevor Maria Magdalena Kaluza, in einschlägigen Kreisen als die „oberschlesische Puffmutter“ bekannt, mit ihrem Lebensgefährten Bogumil, einem deutlich jüngeren, sehr kräftig gebauten Mann aus der Branche aus dem Zamek die „Crazy Bar“ mit angeschlossenen Zimmern machte.

Als Krupniak eintraf, war der Parkplatz nur schwach belegt. Er drückte dem Parkwächter keinen Zloty-Schein, sondern fünfzig Euro die Hand und sagte: „Mein Bentley hier hat mehr gekostet, als du in zehn Jahren verdienst. Pass gut auf ihn auf. Wenn auch nur ein Kratzer drankommt, mach ich dich platt.“

Drinnen setzte er sich nicht an die Bar, sondern an einen etwas abgelegenen Tisch in der Ecke und bestellte einen Lagavulin. Ein Mädchen, das sich zu ihm setzen wollte, scheuchte er mit einer Handbewegung weg. Es war nicht viel los. Ein paar Männer, die der Kleidung nach auf Montage unterwegs waren, stierten in ihre Biergläser und wechselten von Zeit zu Zeit ein paar Worte. Bardamen standen hinter dem Ausschank in einer Ecke und schwatzten. Offensichtlich war mit den Monteuren kein größeres Geschäft zu machen. Aus den Lautsprechern dudelte Plastikpop. Auf einem Bildschirm lief ein Bericht über eine Frau mit dem angeblich dicksten Po der Welt.

In dem trüben lila Licht hätte Krupniak Radoslaw Kleinert beinahe nicht erkannt, der sich suchend umblickte. Er hatte sich mit T-Shirt und Jeans fein gemacht, bestellte ein Bier und nahm einen tiefen Zug. Krupniak stellte amüsiert fest, dass nach dem Absetzen auf dem Glas sogar bei dem gedämpften Licht Kleinerts Fingerabdrücke deutlich erkennbar waren.

Nach kurzem Geplauder kam Kleinert bald zur Sache:

„Hast du schon einmal von dem Schmierölgeschäft gehört?“

„Nein, wie kommst du darauf? Ich verkaufe Finanzprodukte und Immobilien.“

Lesungen

Am 11. November 2023 wird um 15:30 Uhr in Ilvesheim von den Liebesabenteuern unseres lieben Herrn Hermann-Joseph-Schnabeltasse zu hören sein. Ich trage im Rahmen der Inselbuchmesse vor. Die Veranstaltung ist kostenfrei und findet im Gemeindesaal der evangelischen Kirchengemeinde Ilvesheim, Neue Schulstraße 10, 68549 Ilvesheim, statt.

Sehr heiter wird es auch am 30. November 2023 werden. Dann lese ich mit Musikbegleitung aus den unerhörten Abenteuern, die der wackere Edelmann Don Quijote de la Mancha zu bestehen hat. Don Quijote ist mehr als die Windmühlenepisode! Miguel de Cervantes hat uns schon vor über vierhundert Jahren gezeigt, daß Weltliteratur auch leichtverdaulich und vergnüglich sein kann.

Weitere Lesungen der Abenteuer des Herrn Schnabeltasse befinden sich in der Planung. Ich werde berichten!

Herrn Schnabeltasses Heldentat

Der Frauen gegenüber scheue Kriminaloberrat Hermann-Joseph Schnabeltasse ist verliebt. Er wartet auf ein Zecihen seines geliebten“Schneewittchens“, wie er die Angebetete im stillen nennt, da er sie bald wiedersehen will. Das Folgende kommt dazwischen:

Vor dem Haupteingang des Hessischen Landeskriminalamts steht ein Fahrrad, an dem sich ein verdächtig aussehendes Subjekt zu schaffen macht. Dieses nachlässig gekleidete Wesen mit unfrisierten, pappigen und dringend eines ordentlichen Schnitts bedürftigen Haaren sieht verwahrlost aus, was auf seinen kriminellen Charakter bereits hindeutet und jedweden Verdacht zu begründen vermag. Wie der Zufall es so will, kehrt Hermann-Joseph gerade von einem Dienstgang zurück. Er trägt keine Dienstwaffe, dafür ist er mit einer gewissen Mißstimmung versehen.
Das Telefonat mit Schneewittchen letzte Nacht hat ihm bitteren Wermut in den süßen Wein seiner Hoffnungen geträufelt. Gleich heute morgen hat er ihr eine elektronische Kurznachricht geschickt und sie gebeten, ob sie nicht am Abend telefonieren könnten. Er meine es ernst. Gerade hat sie ihm geantwortet, das ginge nicht, da heute die Weihnachtsfeier der Ballettschule stattfände. Alle Eltern wären eingeladen, und die Eleven der Schule führten dabei selbstverständlich ihre Künste vor. Sie würde daher erst sehr spät nach Hause kommen. So wie dies alles formuliert ist, zweifelt Hermann-Joseph, ob es ihm gelingen werde, ihr Mißtrauen zu zerstreuen und sie von seiner Aufrichtigkeit zu überzeugen.
Als er in solch übellauniger Verfassung den Gesetzesbrecher wahrnimmt, erfaßt er blitzschnell die Situation und wendet sich wütend mit unwirschen Worten an das wüste Wesen: »Was machen Sie da?«
Die kriminelle Kanaille kontert und überrascht den Fragesteller damit, daß sie die rhetorische Frage, die nur ein Ausdruck von Unwillen ist, tatsächlich beantwortet.
»Ich klaue ein Rad.«
Der klauwillige Kerl verzieht seine unrasierten Backen – Kriminelle sind ja praktisch immer unrasiert – zu einem dreckigen Grinsen, richtet sich auf und rennt auch schon davon. Hermann-Joseph, wiewohl körperlich noch gut in Form, sieht ein, er hat keine Chance, den flinken Flegel durch Verfolgung flugs zu fangen. Geistesgegenwärtig ergreift er aber den am Boden liegenden Bolzenschneider und schleudert ihn dem fliehenden Straftäter hinterher. Das ist sicher nicht ganz ohne Risiko, weder für den Freund fremder Fahrräder – man darf annehmen, das Aufschlagen eines Werkzeugs am Hinterkopf beschert dem Träger des Kopfes ein sehr unangenehmes Gefühl – noch für den wackeren Hermann-Joseph. Denn er stünde sicherlich unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck, erschlüge er einen einfachen Fahrraddieb, auch wenn er unrasiert ist und wirklich kriminell aussieht, mit einem schweren eisernen Bolzenschneider.
Man sollte indessen in seine Betrachtungen einbeziehen, daß der Heldenhafte einst hessischer Jugendmeister im Speerwurf war und ihm daher einiges zuzutrauen ist. In der Tat. Er schafft es, sein Geschoß so schnell, so weit und so zielgerichtet zu werfen, daß er den flüchtenden Bösewicht – gerade noch am Knie erwischt. Der Schurke stolpert und fällt. Hermann-Joseph eilt zu ihm hin und schnappt sich das Früchtchen – Fallobst sozusagen. Inzwischen sind auch die Beamten im nur einhundert Meter entfernten Wachhaus endlich aufmerksam geworden, kommen hinzu und kümmern sich um alles weitere.
Immer noch übellaunig schnauzt sie Herr Schnabeltasse an:
»Wie kann das überhaupt passieren, daß hier in der Schutzzone vor dem LKA jemand am Zaun einen Gegenstand hinterläßt, und sei es nur ein angekettetes Fahrrad! Nächstens legt hier einer eine Tasche mit einer Bombe ab und Sie merken nichts!«
Der Fahrraddieb feixt, und wenn die Blicke der Beamten töten könnten, hätte es zwei Opfer gegeben.
Im Amt hat sich Herrn Schnabeltasses beherzte Tat schnell herumgesprochen. Zwar ist man – das ist überhaupt keine Frage! – gewohnt, dickere Fische zu fangen, aber solch schnelle Erfolge in der Kriminalitätsbekämpfung führen auch in der dünnen Luft der Verfolger von Terrorismus, internationalen Wirtschaftsdelikten und sonstigen Großverbrechen zu einem würzig-erdigen Hauch aus dem Sumpf des Bodensatzes der Straftaten, den selbst der kriminalistische Überflieger immer wieder gerne riecht.
Herr Kerschensteiner befindet sich aus undurchsichtigen Gründen nicht im Amt. Frau Hoffart, die Amtsleiterin selbst ist es, die bei Herrn Schnabeltasse im Büro vorbeischaut.
»Donnerwetter, Herr Kollege, Sie können‘s noch. Ganz der Alte. Ich habe davon gehört, wie Sie sich heute den Fahrraddieb geschnappt haben. Allerdings hat das 3. Revier in der Willi-Brandt-Allee gerade angerufen. Der des Diebstahls Beschuldigte hat gegen Sie Strafanzeige wegen Körperverletzung im Amt erstattet. Der Bolzenschneider hat ihn zwar nicht weiter verletzt, er wird allenfalls einen blauen Fleck hinterlassen. Beim Hinfallen ist er indessen unglücklich aufgekommen und behauptet, sich die rechte Kniescheibe gebrochen zu haben. Das ist sehr unschön. Schlagzeilen über durch die Polizei ausgeübte Gewalt können wir nicht brauchen.«
Ohne es zu ahnen verstärkt sie Hermann-Josephs Zerknirschung, der sich im nachhinein Vorwürfe gemacht hat. Der Wurf mit dem Bolzenschneider hätte ins Auge, genaugenommen auf den Hinterkopf, gehen können. Wäre das die Festnahme eines Fahrraddiebs wert gewesen? Jetzt steht er da wie vom Donner gerührt. Es ist also doch nicht glimpflich ausgegangen. Das anstehende Ermittlungsverfahren hat seine Heldentat zum Rohrkrepierer werden lassen.
»Ich habe etwas für Sie«, fährt die Präsidentin fort. »Hier ist der Bescheid über Ihre sechsmonatige Abordnung an das Sächsische Landeskriminalamt in Dresden im Rahmen des EuAphessPoPobeandBulä. Wenn Sie mir hier den Zugang quittieren wollen. Übrigens, im Vertrauen gesprochen, ich habe Pläne mit Ihnen. Bitte behalten Sie es noch für sich, aber Herr Kerschensteiner ist vorläufig vom Dienst suspendiert worden. Unter uns Frauen war er schon länger als Grabscher bekannt. Jetzt ist er zumindest in einem Fall noch darüber hinausgegangen, und eine Kollegin hat ihn angezeigt. Selbst wenn an der Sache nichts dran sein sollte, werden die anderen kleineren Vorfälle genügen, um ihn von seiner jetzigen Stelle auf die Leitung eines kleineren Polizeireviers in ›hessisch Sibirien‹ zu versetzen.«
Herrn Schnabeltasse tun die Polizisten in »hessisch Sibirien« leid und er stellt sich vor, daß es dort viele Versetzungsgesuche geben und mancher Beamte lieber ins ungemütliche Frankfurt mit höheren Lebenshaltungskosten wechseln wollen wird.
»Wenn Sie aus Dresden zurückkommen, überdies mit den Erfahrungen, die Sie in einer anderen Behörde gemacht haben, könnte ich Sie mir hier gut auf seinem Posten vorstellen. Zwar muß die Stelle ausgeschrieben werden, aber Sie wissen ja wie das läuft. Beim Innenministerium habe ich schon einmal vorsichtig vorgefühlt, und den Personalrat haben Sie sowieso auf Ihrer Seite. Leitender Kriminaldirektor würden sie freilich nicht sogleich werden. Wir müssen Sie erst einmal zum Kriminaldirektor befördern und danach etwas zuwarten.«
Sie tritt einen Schritt näher an ihn heran und ihre dezent bemalten Lippen weiten sich zu einem verführerischen Lächeln.
»Was meinen Sie, wollen wir die Sache morgen abend zur Einleitung des Wochenendes bei einem netten Essen im ›Le coq qui rit‹ besprechen? Das Lokal hat vor kurzem einen Stern im ›Guide Gummiwerke Müller Castrop-Rauxel‹ erhalten und ich habe jetzt kurz vor Jahresende noch einen Posten für Bewirtungen, den ich aufbrauchen muß, sonst wird er mir im nächsten Haushalt nicht mehr bewilligt.«
Sie streicht sich mit eleganter Geste durchs Haar.
Hermann-Joseph ist perplex. Noch ist er nicht so abgebrüht, daß er alle weiblichen Ränke von Anfang an gleich durchschaut, dennoch hat er in der letzten Zeit einiges dazugelernt.
»Nun«, fragt sie ihn freundlich auffordernd, als er – als feiner Herr hat er sich bei ihrem Eintreten von seinem Platz erhoben –, die Hände in den beiden Seitentaschen seines Rocks vergraben, offensichtlich unschlüssig vor ihr steht. Er ist in Nöten. Er muß unbedingt mit Schneewittchen telefonieren und die Mißverständnisse aus der Welt räumen, am Sonntag ist doch schon der vierte Advent und nächste Woche ist Weihnachten. Er will sie doch jetzt ganz schnell wiedersehen und das muß besprochen werden.
Das Angebot, sich auf Kerschensteiners Position zu bewerben, kommt ihm auch etwas zu plötzlich. Er weiß nicht, ob er das überhaupt will. Schließlich ist sein Leben derzeit auf den Kopf gestellt. Andererseits ist das Angebot, das ihm Frau Hoffart gemacht hat, auch nicht von der Art, daß man es rundweg ablehnen könnte und sollte.
Er wittert auch etwas, was ihm früher nicht aufgefallen wäre: Das Angebot kommt nicht nur von seiner obersten Chefin, es kommt von einer Frau als weibliches Wesen. Er schmeckt eine Ahnung des Dufts einer unsichtbaren Verführung. Er nimmt die Hände aus den Taschen und knetet sich das rechte Ohr.
Weil es ihn besorgt und um Zeit zu gewinnen fragt er:
»Und das Ermittlungsverfahren?«
»Klar, da darf jetzt nichts Unangenehmes dazwischenkommen.«
»Morgen abend habe ich leider eine Verabredung, die ich nicht mehr absagen kann«, sagt er nach einigem Zögern. Er stockt; einerseits weiß er nicht, ob es nach der Erfahrung mit Ingeborg richtig wäre, mit seiner Chefin essen zu gehen. Trotzdem überlegt er, ihr den Vorschlag zu machen, das Essen auf den heutigen Abend vorzuziehen. Er kann sich jetzt noch nicht entscheiden, ob er sich bewerben will, er weiß aber auch, daß ihm nicht viel Zeit bleibt. Am ersten Februar soll er bereits die Stelle in Dresden antreten und vorher sind die Feiertage. Außerdem muß er noch seinen restlichen Urlaub nehmen.
Er wird der Entscheidung enthoben: »Gut, dann besprechen wir das nach den Feiertagen, Herr Kollege.«
Ihr Ton ist deutlich kühler geworden.
Herr Schnabeltasse hat einen Dieb auf frischer Tat ertappt, festgenommen und dafür Anerkennung unter seinen Kollegen gefunden. Seine oberste Chefin hat ihm eine Beförderung in Aussicht gestellt und ihn spüren lassen, daß sie ihn – zumindest – interessant findet. Zudem ist es ihm gelungen, seinen Resturlaub jetzt am Stück nehmen zu können. Er hat die ganzen Feiertage über bis nach dem Dreikönigstag frei. Selbst seinen Bereitschaftsdienst konnte er verlegen. Trotzdem verläßt Herr Schnabeltasse heute das LKA verdrießlich. Als er sich unbeobachtet wähnt, kickt er sogar auf seinem Fußweg zum Hauptbahnhof eine leere Bierdose vom Trottoir auf den Rasen eines gepflegten Vorgartens.

Der Kettenknecht im Kassenkabuff

Der Kettenknecht im Kassenkabuff

Ein hocheiliger Fall. Gerichtskosten müssen mit der Klage eingezahlt werden. Man kann dies mittels Scheck tun – wenn man geduldig ist und drei Wochen Zeit hat. Ich habe keine Zeit. Der Fall ist nicht nur eilig, er ist auch teuer. Daher sind DM 53.715 schnellstens bar bei der Gerichtskasse abzuliefern. Mein Instinkt sagt mir: Schwierigkeiten sind zu gewärtigen. Mutig übernehme ich die Besorgung selbst. Einen dicken braunen Umschlag unter dem langen grauen Mantel versteckt, den Kragen hochgeschlagen und die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, mache ich mich durch den Nieselregen eines Novembertages auf den Weg. Ein prächtiger Tag für Sonderaufträge, ein Hauch Sherlock Holmes liegt in der diesigen Luft. Leider halten sich im Südbahnhof keinerlei verdächtige Gestalten auf, dagegen patrouillieren Mitarbeiter des Bahnschutzes und verderben mir die konspirative Stimmung.

            In der S-Bahn – ha! – ein Anruf meiner Sekretärin. Ich senke die Stimme und versuche unauffällig auszusehen. Alles läuft bestens. Ich ziehe meinen Mantel enger zusammen. Auf dem Weg ins Gericht folgt mir niemand. Nach der Eingangskontrolle, mein braunes Päckchen trage ich auch hier am Busen, wende ich mich gleich rechts in den braun-beigen Kassenraum.

            Es ist halb elf.

            Am Kassenschalter befindet sich eine blonde Anwältin, Anfang vierzig, in Robe. Sie kramt aufgeregt in ihren beiden Taschen, packt eine Menge loser Papiere aus und wieder ein, ohne die Klageschrift zu finden, auf welche sie die Gerichtskosten aufgestempelt haben will. „Das ist heute wieder ein Montag morgen!“, beteuert sie fortwährend. Sie wirkt, als habe heute morgen schon ein Richter durchblicken lassen, er halte ihren Schriftsatz für dümmlich. Er sagte das natürlich nicht so, sondern sprach von „weniger überzeugenden Rechtsausführungen“. Sie versuchte dann sehr wortreich und mit zahlreichen Wiederholungen, freilich vergeblich, den Prozeß noch zum Guten zu wenden. Dadurch geriet sie mit ihrem Zeitplan erheblich in Verzug und erschien zu ihrem nächsten Termin so sehr verspätet, daß bereits Versäumnisurteil gegen ihre Partei ergangen war. Ich mache mir einen Spaß daraus, weitere Mißgeschicke aus dem anwaltlichen Alltag zu phantasieren und stelle mir vor, ihre Sekretärin habe sich schon zum dritten Mal in sechs Wochen montags krank gemeldet und gleich um acht Uhr sei ein recht unangenehmer Anruf ihrer Bank mit der Frage eingegangen, wie sie sich denn nun die Rückführung ihres Überziehungskredits vorstellte. Während ich noch in meine Betrachtungen versunken bin, hat sie endlich die gesuchte Klageschrift aus einer ihrer Taschen gefischt und sich darauf die Höhe der gezahlten Gerichtskosten mit dem Freistempler quittieren lassen. Mit hochrotem Kopf klaubt sie ihre Papiere zusammen und wendet sich ab, um ihre Schriftstücke für das Gericht einzuwerfen. Ich bin dran.

            Nun wird es spannend. Mannhaft trete ich an den Schalter und trage dem Kassier mein Begehren vor:

            „Auf diese Klageschrift hätte ich gerne 53.715 Mark an Gerichtskosten aufgestempelt.“

            Das Gesicht des Kassiers, gerade noch ein gesunder Metzgersteint, entfärbt sich.

            „Des geht net!“

            Ich schaue den Mann an: Das Gesicht ist umrahmt von zwei Ohren mit einer Reihe von Ohrringen. Über einem langärmeligen Baumwollhemd trägt er ein grün-schwarzes Leibchen mit irgendeiner gefährlichen Aufschrift, in deren Mitte ein gelbes Zeichen prangt, welches ich zunächst für eine Siegrune halte, mich dann aber zu einer Deutung als Blitz entschließe. Ketten um Hals und Arme vervollständigen den Eindruck eines mittelalterlichen Reisigen, der für seinen Herrn und Ritter in der Fehde die Drecksarbeit machen muß.

            „Warum geht des net?“

            „Ei, so hohe Beträsch könne net bar eigezahlt wern.“

            „Und wieso?“

            Die aufgesetzte Forschheit des Kettenhemdes schwindet. „Unsern Gerichtskostefreistempele geht bloß bis 999 Mak.“

            „Dann müsse Se halt e paarmal stempele.“

            Ich lese die Antwort des Kettenknechtes hinter seiner Stirn und verkneife mir die Aufforderung zum Rechnen. Er ist, schwer atmend, schon dabei, beim Rechnen. Zu diesem Zweck setzt er eine Rechenmaschine in Betrieb, die vor meinem geistigen Auge alte Zeiten lebendig werden läßt. Vor Jahrzehnten, bei meinem Bankpraktikum in der Referendarzeit, arbeitete ich mit der gleichen Maschine. Der Kettenmann betätigt die Maschine, sie funktioniert auch, aber das Ergebnis scheint ihm nicht zu behagen. Durch die Panzerglasscheibe erklärt er mir, mit seinem Chef sprechen zu müssen und verläßt sein Kabuff durch die hintere Glastüre. Ich ergreife wieder mein braunes Päckchen und sehe mich um. Niemand ist hinter mir.

            Durch die Glastür des Kassenkabuffs kann ich die Justizangestellten in dem Raum dahinter beobachten. Ein älterer Mann sitzt an seinem Schreibtisch und wendet Überweisungen oder ähnliches mehrfach hin und her. Er scheint sich nicht entscheiden zu können, wie mit den Papieren zu verfahren sei. Er löst den Konflikt, indem er die Papiere niederlegt und sorgsam stapelt, um sodann auf seine Uhr zu schauen. Er trägt sie am rechten Arm, das Zifferblatt auf der Arminnenseite. Ein Nonkonformist! In der Zwischenzeit hat eine junge, hübsche Justizangestellte den Raum betreten und schäkert sehr vertraut mit einem Kollegen meines Alters. Ja, ja, meine Frau sagte früher schon immer, eine Tätigkeit in der Justiz hätte enorme Vorteile. Ich muß ihr nach so vielen Jahren recht geben. Inzwischen hat der Nonkonformist seine Tätigkeit wieder aufgenommen. Mit Spannung beobachte ich, wie er sich den Papieren zuwendet, da werde ich schon wieder abgelenkt. Sie steigt auf eine Leiter! Die junge hübsche Justizangestellte klettert auf eine Leiter, um Akten aus der oberen Regalreihe zu holen. Sie trägt zwar Hosen, trotzdem sieht sich der Nonkonformist genötigt, seine Papiere erneut niederzulegen. Mein Alterskollege, der Schlawiner, drängt sich an die Leiter und gibt sich den Anschein, für festen Stand sorgen zu wollen.

            In dem Moment kommt das Kettenhemd zurück. Es ist kurz vor elf.

Schwer atmend, unter leisem Klirren seines kriegerischen Schmucks, setzt der Kettenknecht die Rechenmaschine in Gang, rechnet mit derselben, um danach mit dem Kopf zu rechnen, wobei letzterer rot wird. Ich frage mich, ob Scham oder Wut die Ursache sei. Der Schwermetallfreund stiert mich an. Es wunderte mich nicht, wenn er aus der Ecke seines Kabuffs einen Morgenstern hervorzöge, um ihn gegen mich zu schwingen. Ich lächele kühl, zwischen uns ist dickes Panzerglas, ich kenne keine Furcht. Heavy Metal muß nochmal zum Chef. Mir macht das nichts aus, denn es ist hier ja wirklich unterhaltsam und viel los.             Inzwischen hat sich hinter mir eine Schlange gebildet. Ich presse das braune Päckchen mit den Geldscheinen fester an mich und sonne mich in meiner Wichtigkeit. Mein Blick sucht den Nonkonformisten. Er hat sich inzwischen entschieden und schält sich einen Apfel. Ich will gerade nach der Kletterkatze schielen, als Kettenhemd auch schon vom Chef zurück ist. Er rechnet mehrfach und die Rechnung scheint aufzugehen. Nachdem er die Maschine ausgiebig betätigt hat – sie kann nicht multiplizieren und später habe ich verstanden, daß er neunundfünfzigmal 900 DM addiert hat – wendet er sich dem Gerichtskostenfreistempler zu. Ein, sagen wir, recht traditionelles Gerät. Mein Oheim selig hatte ein solches in seinem Architekturbüro als Postfreistempler in Gebrauch – 1960 oder so. Ketterich nimmt mehrere Blätter und beginnt, 900 DM-weise Stempel aufzudrucken. Nach jeweils zehn Aufdrucken hält er inne und zählt nach. Da er die Vorder- und Rückseiten der Blätter bedruckt, vergißt er beim Zählen immer wieder, ob er die andere Seite des Blattes schon erfaßt hat und beginnt von vorne. Die Schlange hinter mir ist schon geschrumpft. Einige Anwälte mußten wohl zum Termin. Das Stöhnen der Wartenden in meinem Rücken bei jedem neuen Ansatz zum Zählen wird mir langsam unbehaglich. Die Waffenkontrolle am Eingang hat doch ihren Sinn. Der Kettenknecht stellt den Freistempler auf 615 DM. Ich atme auf.

            Es ist viertel zwölf. Das Paket mit den Geldscheinen paßt nicht durch den Schlitz. Ich blättere meine Schätze auf und gebe sie durch. Ich überlege, was ich tue, wenn der flinkfingrige Rechenkünstler auf der anderen Seite der Panzerglasscheibe an der Echtheit der Scheine zweifelt. Er hat aber keine Zweifel, jedenfalls sprechen die Schweißperlen auf seiner Stirn davon, daß er den Vorgang und mich endlich loswerden will. Er zählt noch nicht einmal die fünf Bündel zu jeweils 10.000 DM in Hundertmarkscheinen nach. Er ist doch nicht so nervenstark.

            Die Schlange hinter mir ist verschwunden. Während ich zusammenpacke, betritt ein Mann den Kassenraum. Ein Kirchenaustritt, sechzig Mark. Draußen hat der Regen aufgehört.

26. November 2001 – 10. Januar 2023

Matthias Alexander Wolf

Der rüstige Eisenbahner

Der rüstige Eisenbahner

Eine Erzählung

Dies ist die Geschichte des Eisenbahnhauptsekretärs a. D. Erwin Butzlaff. Zwei Abenteuer sind es, die ihm in seinem Leben begegnet sind und beide hat er nur knapp überlebt. Jedesmal war er Opfer, aber das zweite Abenteuer machte ihn in seinen Augen zum Helden und brachte seinen Lebensabend zum Strahlen.

Das erste Abenteuer bestand in seiner Flucht aus Hinterpommern vor der Roten Armee, die ihn unter viel Mühsal und Gefahren nach Südwestdeutschland führte, wo er, im Straßengraben liegend, einen Tieffliegerangriff nur mit Glück überstand. Ein Stein drückte ihn. Er schob sich ein wenig auf die Seite, als eine Handbreit neben ihm, da wo er gerade noch gelegen hatte, Geschosse eines Bordmaschinengewehrs einschlugen.

Das zweite Abenteuer bestand er mehrere Jahrzehnte später.

Er war gerade sechzig Jahre alt geworden, als seine Gertrud, die er seit vielen Jahren nur noch „Mutti“ nannte, plötzlich verstarb. Die beiden Kinder waren aus dem Haus und lebten weit entfernt. Gertrud hatte sich immer um alles gekümmert und sie fehlte ihm so sehr, daß es schmerzte. Obwohl der obere Stock vermietet war, erschien ihm das Haus, das er aus den Mitteln des Lastenausgleichs in Eigenarbeit und mit der Hilfe andrer pommerscher Flüchtlinge gebaut hatte, zu groß und zu leer.

Eine Beförderung hatte er nicht mehr zu erwarten. Der bahnärztliche Dienst erkannte, daß seine Rückenschmerzen von den ergonomisch ungünstigen Bürostühlen herrührten, auf denen er jahrzehntelang hatte sitzen müssen. Damit handelte es sich um eine Berufskrankheit, was ihm ermöglichte, ohne Kürzung seiner Ruhebezüge mit 62 Jahren in Pension zu gehen.

Jetzt fühlte er sich noch einsamer. Auch die Arbeit in seinem großen Garten half ihm nicht. Und sonntags vermißte er den pommerschen Apfelkuchen, den Mutti so gut wie keine andere hatte backen können.

Sein Freund und ehemaliger Arbeitskollege Karl-Albert riet ihm zu einer Kur, um wieder auf andere Gedanken zu kommen. Tatsächlich wurde Erwin trotz Ruhestands eine Rehabilitationsmaßnahme wegen seines Rückenleidens bewilligt.

In der Reha-Klinik fand er schnell Anschluß an eine Gruppe von Männern in seinem Alter. Man hatte viel Zeit zwischen Behandlungen und Anwendungen und die Gespräche kreisten nicht nur um Fußball, Autos und Politik. Die Patientinnen waren im Sanatorium in der Überzahl. Die Kollegen hatten alle weibliche Gesellschaft und prahlten mit ihren Abenteuern.

Die männlichen Gefühle Erwins, die in der Einsamkeit seines Hauses nach Muttis Tod fast abgestorben waren, wurden durch die Histörchen seiner Mitpatienten neu belebt. Wohl hatte er schon einiges über die lockeren Sitten bei Kuraufenthalten gehört. Was die Kollegen aber so erzählten, erschien ihm trotzdem, selbst wenn nur die Hälfte stimmte, unglaublich.

Das Zwicken im Rücken müßte kein Hindernis sein, dachte er sich und erkundigte sich bei nächster Gelegenheit bei einem seiner Tischnachbarn vertraulich, was denn mit Frauen so ginge. Reinhold war in dieser Hinsicht sehr gut versorgt und gab ihm deshalb gerne den entscheidenden Tip.

„Horst ist doch gestern abgereist. Da ist Roswitha wieder frei. Kennst du sie nicht? Das ist die schärfste Sechzigjährige, die ich je gesehen habe. Die Karosserie noch gut in Form, am Lack nur ein paar kleine Rostflecken, alles in allem für die Laufleistung noch top in Schuß.“

Reinhold hatte eine Autowerkstatt und handelte auch mit Gebrauchtwagen.

„Ich kenne sie aber gar nicht näher. Wie soll ich denn das anstellen?“

„Ich merke schon, du warst immer brav bei der Mutti, dir fehlt da die Erfahrung. Laß mich mal machen. Ich regle das.“

Reinhold hatte den Bogen raus. Der Kontakt war schnell hergestellt.

Rosemarie, die ihr Alter niemandem verriet, die Sechzig jedenfalls schon deutlich überschritten haben musste, war immer noch sehr attraktiv; vollbusig, aber sonst recht schlank, mit regelmäßigen Gesichtszügen und wallenden schwarzen Locken. Ihre Kleidung und ihr Benehmen waren, zumal für eine Frau ihres Alters, etwas zu aufreizend, aber das erregte Erwin eher, als daß es ihn störte.

Sie fand Erwin ganz passabel aussehend – er hatte noch einen Rest seiner früheren Figur als ehemaliger Aktiver im Kraftsportverein behalten –, Roswitha nahm auch die Worte „Beamter“ und „Pension“ wohlgefällig auf und so wurden sie schnell ein Pärchen, landeten sogar noch am selben Abend hinter den Büschen. Beim Warten vor dem Massageraum erzählte Erwin den anderen am nächsten Tag sein Abenteuer.

„Roswitha ist wirklich eine Granate. Ich hab‘s ja gern, wenn an einer Frau obenrum was dran ist, meine Gertrud hatte auch ganz schön was zu bieten. Aber Rosemarie, da blieb mir die Spucke weg. So etwas habe ich noch nie erlebt. Wißt ihr, mit Gertrud war es immer im Dunkeln und unter der Decke. Und dann das. Im Freien, man hätte uns sehen können! Das war für mich das größte Abenteuer seit Krieg und Vertreibung.“

Erwin war Roswitha im Nu verfallen, wie verhext. Die Kur war für ihn unwirklich. Manchmal erwachte er frühmorgens und wußte in seinem Dämmerzustand nicht, ob er seine neuen Erfahrungen und Erlebnisse mit ihr nur geträumt hatte. Er fühlte sich als Mann, als ganzer Kerl. Die jahrzehntelange Routine der Arbeit und des Zusammenlebens mit Gertrud war vorüber. Auch die Zeit der Niedergeschlagenheit und Trauer des Witwers war vorbei. Voller Farben war die Welt auf einmal, die Pensionierung das Tor zu einem Meer großer Freiheit und Unabhängigkeit. Er fühlte sich als Kapitän des Dampfschiffs seines Lebens, stand auf der Brücke und schaute mit zugekniffenen Augen auf die im Sonnenlicht gleißende blaue See. Aus einer Laune heraus kauft er sich in einem Andenkenladen eine weiße Kapitänsmütze, setzte sie immer öfter auf und trug sie gerne zu einem dunkelblauen Blazer, wenn er mit Roswitha tanzen ging. Sie hakte sich dann, stolz über ihren stattlichen Galan, bei ihm unter.

Nach der Entlassung aus der Kur hielt er es keine Woche zuhause aus und fuhr für einige Tage die vierhundert Kilometer zu ihr. Ihre Wohnung war klein und in einem etwas heruntergekommenen Stadtviertel gelegen. Vergeblich versuchte er sie zu überreden, zu ihm zu ziehen. Sie zierte sich, erfüllte ihm nachts nichtsdestoweniger alle seine Wünsche, und schickte ihn nach zwei Tagen und Nächten nach Hause, weil sie sich dies gründlich und in Ruhe überlegen müßte. Er gehorchte, reiste ab, wurde aber daheim wie rasend vor Verlangen nach ihr und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Noch nicht einmal die Gartenarbeit, die er immer geliebt und die oft Gleichgewicht in sein Gemüt gebracht hatte, vermochte ihn abzulenken. Schon nach einer Woche machte er sich wieder auf zu ihr. Sie empfing ihn so wie er es sich erträumt hatte, zeigte aber keine Anstalten, zu ihm zu ziehen.

Endlich ließ sie sich zu einem Besuch bei ihm überreden. Sie besichtigte eingehend das Haus, interessierte sich sehr für seine Vermögensverhältnisse und seine, wie er selbst mehrfach betont hatte, „schöne Pension“. Erwin hatte Oberwasser und gab prahlend Auskunft. Seine geschlechtlichen Bedürfnisse wurden nach wie vor zu seiner völligen Zufriedenheit erfüllt und er las Roswitha jeden Wunsch, von denen sie mancherlei hatte, von den Lippen ab. Auch die Kosten für die vierwöchige Kreuzfahrt in der Karibik wurden von ihm großzügig übernommen.

Er berichtete seinen Kegelbrüdern: „Stellt euch vor, wir haben vor der Abreise den ersten Smoking meines Lebens gekauft. Das heißt, gleich zwei, einen schwarzen und einen weißen. Sowas Vornehmes wie auf dieser Kreuzfahrt hatte ich vorher noch nie erlebt.“

Roswitha behielt ihre Wohnung bei, blieb aber nach der Rückkehr von der Kreuzfahrt zunächst bei Erwin. Was ihr an Garderobe fehlte, kaufte er ihr. Aus Angst, sie würde nicht mehr mit ihm zurückfahren wollen, fand er tausend Ausflüchte, um sie von einer Fahrt zu ihr nach Hause abzubringen.

Als Erwin dann wieder das Thema eines „richtigen“ Zusammenziehens anschnitt, zeigte sich Roswitha besorgt und traurig:

„Ich liebe dich so sehr, mein großer starker Bär, aber ich habe auch meine nette, gemütliche Wohnung, die ich aufgeben müßte. Wenn dir etwas zustoßen würde, wäre ich mittellos und stünde auf der Straße, ganz verlassen. Ich möchte so gerne bei dir bleiben und immer für dich da sein, aber du mußt auch verstehen, wenn ich alles für dich aufgebe, dann müßtest du auch ein wenig für mich sorgen. Das siehst du doch ein, nicht wahr mein Bärchen?“

Die kleine Formalität einer Kontovollmacht für Roswitha war bei der Sparkasse am nächsten Morgen schnell erledigt. Die Mitarbeiterin dort, die auch schon etwas älter war, Erwin seit vielen Jahren kannte, und welcher der aufwändige Lebensstil ihres Kunden nicht entgangen war, hatte ein wenig die Brauen hochgezogen und gesagt:

„Ihnen ist bewußt, Herr Butzlaff, daß Frau Roswitha Lebedeern mit dieser Vollmacht über Ihr gesamtes Vermögen verfügen kann?“

Roswithas Blick traf die Bankmitarbeiterin wie ein mit Curare vergifteter Pfeil aus einem Blasrohr, als Erwin auch schon antwortete:

„Natürlich, das soll so sein.“

Die Angestellte, die auch seine Kinder hatte aufwachsen sehen, verkniff sich eine Bemerkung, was diese wohl zu der Vollmacht sagen würden.

Bei seinen Kegelbrüdern war er der Matador, sie bewunderten und beneideten ihn. Erwin zeigte keinerlei Scheu, seinen Kumpanen gegenüber auch intimste Details offenzulegen. Er genoß es vielmehr. Seine Jugend war in den Kriegswirren untergegangen. Jetzt fühlte er sich als junger Wilder.

Ein oder zwei Wochen später waren sie gerade im Bett. Erwin hatte sie wieder einmal bekniet, bei ihm fest einzuziehen, sie hatte nicht reagiert und dies war es, was ihn in dem Moment erregte. Er begann sie zu streicheln.

„Laß uns ein Nümmerchen machen“, grummelte er.

Da stieß ihn Roswitha ganz plötzlich zurück, zog ein Lolita-Schnütchen und erklärte ihm mit Kleinmädchenstimme, sie hätte ihm etwas mitzuteilen.

„Du weißt, ich liebe nur dich, mein großer starker Eisenbahnbär, aber als ich zuletzt bei mir zuhause war, hat mir Norbert einen ernsthaften Antrag gemacht. Er ist ein gutsituierter Geschäftsmann und sieht auch ganz gut aus, natürlich nicht so gut wie du und so kräftig ist er auch nicht. Seine Villa ist allerdings sehr hübsch, das muß man schon  sagen. Er fährt keinen Manta wie du, sondern einen Porsche und scheint eine Menge Geld zu haben. Du brauchst dir wirklich keine Gedanken zu machen, Norbert interessiert mich nicht und aufs Geld kommt es mir nicht an. Aber wenn wir zusammenleben, muß ich doch auch versorgt sein. Oder hast du keine ernsthaften Absichten und suchst nur deinen Spaß?“

Erwin war gerade ziemlich erregt und wollte zum Zug kommen.

„Nein, nein, natürlich ist es mir ernst. Das weißt du doch, mein Zuckerschnütchen.“ Er drückte ihr einen ziemlich feuchten Kuss auf die Lippen.

„Wenn ich jetzt alles aufgebe und mich um dich kümmere – und das willst du doch, nicht wahr mein Bärchen? Dann hoffen wir ja, daß dies viele Jahre so weitergeht. Aber wenn dir dann doch einmal etwas passiert – wir müssen realistisch sein – dann stehe ich vor dem Nichts und muß beim Sozialamt betteln gehen.“

Erwin fragte nicht, wovon sie bisher gelebt hätte und leben würde, wenn sie sich nicht kennengelernt hätten. Er schaut nur in Ihre großen braunen Augen.

„Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. So wie du für mich sorgst, sorge auch ich für dich. Ich werde mein Testament ändern.“

„Diese Nacht war himmlisch. Sie hat mich so verwöhnt …“, schwärmte er wenige Tage später seinen Kegelbrüdern vor.

Als er das Testament geändert hatte, nahm es Roswitha an sich und fuhr zu sich nach Hause, weil sie dort nach dem Rechten sehen mußte. Er sollte nicht mitkommen, sie wollte ein wenig für sich sein und sich auch mit ihrer guten Freundin Helga treffen, um mit ihr ein paar Tage zu verbringen. Sie fehlte ihm aber sehr, daher fuhr er ihr eine Woche später nach und besuchte sie.

Roswitha und Helga schienen unzertrennlich zu sein. Helga war in etwa Roswithas Ausgabe in Blond, üppig gebaut und auffällig geschminkt. Sie trug am liebsten hautenge Oberteile in Leopardenmuster. Roswitha erzählte ihm, Helga sei alleinstehend und auf der Suche nach einem Mann. Sie wälze sich häufig zu schwerer Musik auf dem Teppich. Erwin bekam große Augen und entwickelte Phantasien. Diese wurden nur in der Anfangsstufe erfüllt. Er durfte die zwei zu einem feudalen Abendessen einladen, war danach leicht beschwipst und machte sich Hoffnung auf mehr. Nach dem Essen gab ihm Roswitha ihren Wohnungsschlüssel und sagte ihm, er könnte jetzt nach Hause gehen. Sie und Helga hätten noch in Ruhe etwas zu besprechen, sie würde dann bei Helga übernachten. Roswitha gab ihm einen Gute-Nacht-Kuß, Helga drückte ihn fest an ihren gewaltigen Busen, tätschelte ihm die Wange und sagte:

„Jetzt geh du mal schön nach Hause mein Bübchen und schlaf gut. Du hast ja wohl ein bißchen zu viel getrunken, nicht wahr, du Schlimmer?“

Er hatte nicht mehr getrunken als die beiden Damen, denen nichts anzumerken war.

Am nächsten Abend im Bett sprach Roswitha davon, sie sollten zu einem Notar gehen, damit das Testament auch wirklich rechtsgültig wäre. Sie kennte da jemanden, einen Rechtsanwalt und Notar, schon seit langem übrigens, und der hätte ihr zu einem Erbvertrag geraten.

„Das kostet eine Menge Geld und ist doch unnötig. Ein Testament ist auch so gültig“, wußte Erwin Bescheid.

„Man kann da aber eine Menge Formfehler machen und dann kommen deine Kinder, fechten das Testament an und ich stehe vor dem Nichts. Das willst du doch nicht, Oder hast du mir etwas vorgelogen? Den Notar kenne ich gut und schon sehr lange. Er wird beim Honorar beide Augen zudrücken.“

Erwin wurde eifersüchtig, fürchtete, sie könnte ein Techtelmechtel mit dem Notar haben, und wollte lieber zu seinem Notar gehen, den er auch schon lange kannte. Eine Woche später packten sie ihre Sachen, Erwins Manta wurde vollgeladen und Erwin fuhr mit Roswitha zu sich nach Hause.

Der Notar war in Urlaub. Zu seinem Vertreter wollte Erwin nicht gehen. Danach war es schwierig, Termine zu bekommen und Erwin zeigte auch keinen besonderen Eifer in dieser Hinsicht.

Eines Morgens richtete Roswitha Erwin besonders liebevoll ein Frühstück. Sie kochte ihm ein Ei, wachsweich, wie er es gerne aß, schnitt ihm eine Tomate auf, arrangierte alles sehr nett und bereitete ihm seinen Lieblingstee zu. Er freute sich, frühstückte mit Appetit, fand nur den Tee etwas zu stark gesüßt. Sonst gab er sich immer selbst den Zucker in die Tasse. Anschließend wollte er etwas im Garten arbeiten und am Abend würden sie gemeinsam gepflegt essen gehen. Er besuchte nicht mehr das Vereinslokal der Kleintierzüchter „Zur Hühnerleiter“, wo es so schön große Schnitzel gab. Roswitha lehnte diese Wirtschaft ab und bestand darauf, in der Trattoria „Da Luigi“ zu speisen, auch wenn es dort dreimal so teuer war. Er hatte den Verdacht, daß der Grund nicht die gute Küche, sondern Luigi war.

Kaum hatte er sein Frühstück beendet und die Gartengeräte gerichtet, als Erwin auch schon starke Leibschmerzen verspürte. Er ging ins Haus, fünf Minuten später legte er sich, von Krämpfen geschüttelt, auf die Couch. Roswitha hatte sich zu einem Einkaufsbummel verabschiedet. Weil die Schmerzen ihm schier die Gedärme zu zerreißen schienen, schleppte er sich zum Telefon und wählte den Notruf.

„Kommen Sie schnell, ich habe plötzlich fürchterliche Leibschmerzen. Ich habe das Gefühl, von innen her zu verbrennen.“

Mit Roswithas Rückkehr war so schnell nicht zu rechnen. Als ihm klar wurde, daß seine Rettung vielleicht zu spät käme, wenn der Notarzt vor der geschlossenen Haustüre stünde und erst weitere Hilfe herbeigerufen werden müßte, raffte er sich, wie ein Hund vor Schmerzen heulend, auf. In seinem Kopf drehte sich alles, Arme und Beine gehorchten ihm kaum noch. Im Flur torkelte er von einer Wand gegen die andere und schaffte es gerade noch mit letzter Kraft, die Haustür zu öffnen. In der offenen Tür brach er zusammen, Magen, Darm und Blase entleerten sich unkontrolliert. In seinen Exkrementen liegend wartete er auf das Eintreffen des Notarztes, verlor schließlich das Bewußtsein und wäre an seinem Erbrochenen erstickt, wenn der Rettungswagen nicht gerade noch rechtzeitig eingetroffen wäre.

Nach einer Erstversorgung durch den Notarzt und Behandlung im nächstgelegenen Krankenhaus wurde er per Hubschrauber in eine spezialisierte Vergiftungsklinik verlegt. Zwei Wochen lang war sein Zustand sehr kritisch. Mit Roswitha hatte er in dieser Zeit telefonisch Kontakt, sie kam ihn aber nicht besuchen, da sie keinen Führerschein hatte. Nach drei Wochen kam sie dann mit ihrer Freundin Helga.

Erwin freute sich wie ein kleiner Bub, als sie ihn endlich besuchen kam.

Sie brachte ihm abgepackte Blumen von der Tankstelle mit und zeigte sich über seinen Zustand sehr besorgt. Dann ließ sie ihn wissen, sie hätte den Hausflur gründlich geputzt, was sie sehr geekelt hätte, hätte aber trotzdem drei Tage lang den Geruch nicht aus dem Haus bekommen. Seine Frühstückswurst wäre ja offensichtlich verdorben gewesen. Sie hätte es ihm gesagt, er sollte sie wegwerfen, aber er mit seinem Sparfimmel könnte nicht hören. Das hätte er jetzt davon. Sie gab ihm seine Schlüssel zurück und fuhr mit Helga davon.

Wenige Tage darauf kamen zwei Kriminalbeamte ins Krankenhaus, um Erwin Butzlaff zu vernehmen. Sie fragen ihn, ob er in seinem Garten Unkrautvernichtungsmittel verwendete, was er bejahte. Es müßte noch eine fast volle Flasche von „Unkraut-Adieu“ in der Garage auf dem zweiten Regal von oben stehen.

Die Polizei durchsuchte die Garage und Butzlaffs Haus, fand aber keine Reste von „Unkraut-Adieu“.

Erwins Gesicht war noch recht gelb, als er in der Kanzlei vorsprach und die Auszubildende ihm öffnete. Er hielt den Atem an und fragte sie mit eingezogenem Bauch:

„Steht mein Wagen auch sicher auf Ihrem Parkplatz? Ich habe mir heute morgen nämlich neue Leichtmetallfelgen an meinen Manta anbringen lassen und ganz neue Reifen drauf. Extrabreite Schlappen!“

In seiner beigefarbenen Anglerweste mit den zahlreichen praktische Außentaschen kam er sich sehr verwegen vor. Lea Scharschmidt antwortete mit etwas Unverständnis, es sei noch nie irgend etwas vorgekommen und fragte nach vereinbartem Termin und Anliegen.

„Nein, einen Termin habe ich nicht so direkt, aber ich müßte dringend mit dem Anwalt sprechen. So eine hübsche junge Frau wie Sie kann doch bestimmt beim Chef ein gutes Wort für mich einlegen.“

Er tätschelte ihr den Arm, sie trat mit gerunzelter Stirn einen Schritt zurück.

„Worum geht es denn?“

Er blähte die Nüstern und antwortete: „Um Mord.“

„Oh, nehmen Sie bitte einen Moment Platz. Ich schaue nach.“

Eine Minute später bat ihn Rechtsanwalt Steinbacher in sein Büro.

„Was kann ich für Sie tun Herr …“

„Butzlaff, Erwin Butzlaff. Es handelt sich um einen Mord.“

Er strahlte.

„An wem, wer ist das Opfer?“, wollte Steinbacher wissen, verwundert über den Glanz in Butzlaffs Augen.

„Ich selbst.“

Er schaute, immer noch strahlend, rechts und links, als ob er Beifall erwartete.

Ungefragt und bevor Steinbacher herausfinden konnte, was Erwin Butzlaff von ihm wollte, legte dieser los und erzählte genüßlich seine Geschichte wie ein Bächlein, das mäandernd und gluckernd gemächlich zu Tal fließt.

„Jetzt habe ich Post von der Staatsanwaltschaft erhalten und da dachte ich, es wäre Zeit, mir einen Rechtsanwalt zu nehmen.“

„Zeigen Sie mal her!“

Butzlaff kramte das Schreiben aus seiner Tasche.

„In dem Ermittlungsverfahren gegen Lebedeern, Roswitha“, stand da, „geb. Schmidtke, gesch. Pellworm, verw. Amthor, geb. 18.4.19 … in … wegen Verdachts des versuchten Mordes u. a. Geschädigter, Butzlaff, Erich, werden Sie zur Vernehmung als Zeuge vor der Staatsanwaltschaft am … geladen.“

„Was soll ich jetzt machen“, fragte Butzlaff ein wenig unsicher. „Muß ich da hin?“

„Sie müssen im Moment überhaupt nichts tun. Ich werde mit dem Staatsanwalt sprechen und mich um alles kümmern.“

Erleichtert, weil er wieder einmal seine Geschichte losgeworden war und sich jetzt der Anwalt um den Fall kümmerte, stieg Erwin wieder in seinen Manta.

Steinbacher sprach lange mit dem Staatsanwalt.

„Roswitha Lebedeern ist in ihrer Heimatstadt meinen Kollegen schon seit Jahrzehnten keine Unbekannte mehr. Bis sie zu alt dafür wurde, hat sie als Prostituierte gearbeitet. Im Register stehen mehrfache Vorstrafen wegen kleinerer Delikte, Diebstähle, Betrug an Freiern, denen sie das Geld abknöpfte, daraufhin verschwand und die Männer mit einem Pornoheftchen im Zimmer sitzen ließ, und dergleichen. Ihre Freundin, Helga Plaßmann, ist noch ein ganz anderes Kaliber. Sie wurde nicht nur wegen verschiedener kleinerer Straftaten verurteilt, gegen sie wurde auch einmal wegen Mordes durch Vergiftung ermittelt. Letztlich konnte ihr aber die Tat zur Überzeugung der Großen Strafkammer nicht nachgewiesen werden. Die weiß wie‘s geht.“

„Butzlaff war über drei Monate in Kliniken. Er gibt sich zwar sehr munter, hat aber irreparable Organschäden an Leber und Nieren davongetragen und ist sehr gelb im Gesicht. Ich bin kein Arzt, aber ich fürchte, er könnte versterben, bevor man der Lebedeern den Prozeß machen kann.“

„Ich werde seine richterliche Vernehmung beantragen“, entgegnete der Staatsanwalt. Dann kann die Aussage im Prozeß gegen Lebedeern auch dann verwertet werden, falls Butzlaff nicht mehr vernehmungsfähig oder verstorben ist. Sie bekommen Post. Aber sagen Sie Butzlaff nicht den wahren Grund für seine richterliche Vernehmung. Lassen Sie sich etwas einfallen, das könnt ihr Rechtsanwälte doch.“

„Klar! Ich habe den Mandanten im Griff.“

Freudig erregt ging Erwin, von Steinbacher begleitet, drei Wochen später zum Amtsgericht. Seine Miene verdüsterte sich zusehends, als er feststellte, daß der Richter nicht willens war, sich seine Geschichte in aller Ausführlichkeit anzuhören und abzudiktieren. Nur einmal glühten seine Augen noch:

„Herr Richter, ich habe durch Roswitha die französische Liebe kennengelernt!“

Steinbacher konnte sich ein Lachen kaum verkneifen, der Richter hatte sich jedoch wunderbar in der Gewalt und sah davon ab, diese Einlassung in der Vernehmungsniederschrift zu vermerken.

Einige Zeit später kündigte Erwin Butzlaff das Mandat, weil Steinbacher zu wenig unternähme.

Erwin Butzlaff klammerte sich an seine Rolle als Held. Die Tragödie und seine wirkliche Rolle darin wollte er nicht wahrhaben. Er suchte weiterhin den Kontakt zu Roswitha und hätte sie, wäre sie zurückgekommen, jederzeit liebend gerne wieder aufgenommen. Sein Heldenepos aber wollte er gerne öfter erzählen und wechselte deswegen noch zweimal den Anwalt. Jedesmal wurde es für ihn teurer, wie Steinbacher dann später zufällig auf dem Gerichtsflur erfuhr.

Vielleicht, sagte er sich, hat Butzlaff die Lebedeern tatsächlich geliebt und liebt sie noch. Sie war das Glanzlicht seines Lebens, hat ihm allerhand Abenteuer und durch die Zeitungsberichte örtliche Berühmtheit gebracht. Er wird seine Heldenrolle benötigen, um sich der Enttäuschung nicht stellen zu müssen. Wer weiß schon, wie es in seinem Innenleben aussieht.

 Erwin Butzlaff lebte danach nicht mehr lange. Er starb indessen nicht an den Folgen seiner Vergiftung.

Bei strömendem Regen platzte auf der Autobahn bei Tempo 160 einer seiner „breiten Schlappen“. Er verlor die Herrschaft über den Manta und prallte gegen die Mittelleitplanke. Es folgte eine Massenkarambolage. Unterwegs zu Roswitha starb Erwin Butzlaff noch am Unfallort.

Roswitha schützte gegenüber dem Gericht zahlreiche Erkrankungen vor. Damit zog ihr Verteidiger, ein Rechtsanwalt, der in Justizkreisen als „Rotlicht-Paul“ bekannt war, und dem man das Notariat wegen unsauberer Amtsführung vor kurzem abgenommen hatte, das Verfahren noch zwei Jahre hinaus. Dann erfolgte die Einstellung wegen Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten.

Der Verlag

Philemon Bartholomäus Wortberg

Sie prahlten aus vollem Hals – und bekamen so den Hals nicht voll
Die Geschichte des Pralhals-Verlages

Ein Roman

Frühjahr 1968

„Ho, Ho, Ho Tschi Minh! USA, SS, SA! Amis raus aus Vietnam!“ Sie hatten sich die Kehle heiser gebrüllt und brauchten dringend etwas zu trinken. Es war ein langer Tag gewesen. Am Vormittag hatten sie die Vorlesung von Professor Wannemacher zum Thema „Erasmus von Rotterdam und seine Rezeption in der slawischsprachigen Welt“ zu einem teach-in umfunktioniert. Der Slawist und Philosoph Wannemacher hatte als Student in der dreißiger Jahren, protegiert vom Führer des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes dort Karriere gemacht und 1938 in der nationalsozialistischen Studentenzeitung „Die Bewegung“ einen längeren Artikel mit dem Titel „Die Minderwertigkeit der slawischen Rasse – Wissenschaftliche Grundlagen“ veröffentlicht. Nach dem Zusammenbruch des Reiches floh er bald aus der sowjetisch besetzten Zone und es gelang ihm, sich in den fünfziger Jahren im Universitätsbetrieb der jungen Bundesrepublik erneut zu etablieren. Er war Ordinarius für Philosophie und Geschichte des abendländischen Denkens.

Sie hatten abgesprochen, daß Wannemacher heute in der Vorlesung als Faschistenschwein demaskiert werden sollte. Als er den Hörsaal betrat, gab es erst Buh-, dann provokative Zwischenrufe, schließlich wurde er niedergebrüllt. Zu einer Diskussion kam es nicht. Robert und seine Genossen ließen dies nicht zu. Sie übernahmen das Kommando und die Mikrophone und eiferten über den Freiheitskampf des vietnamesischen Volkes, das heldenhaft gegen das imperialistische Amerika kämpfte, um der Weltrevolution zum Sieg zu verhelfen. Die Vasallenrolle des faschistischen Regimes der BRD wurde aufgedeckt und scharf verurteilt. Wannemacher verließ den Hörsaal mit versteinertem Gesicht, während Robert mit rotumrandeten Augen, schwitzend vor Erregung seine Suada abzog. Zum anschließenden sit-in zog man vor das Rektorat der Universität und versperrte alle Eingänge, bis sich die Blockade im Handgemenge mit der Polizei auflöste.

Nun war man also heiser, hatte Durst und Hunger. Petra schlug vor, im „Republikanischen Club“ weiterzudiskutieren, aber Kurt, dessen Lust auf Genuß sich nicht auf intellektuellen Erguß beschränkte, wollte erst essen und trinken und war dafür, ein neueröffnetes italienisches Lokal auszuprobieren, das zu günstigen Preisen Pizza anbot.

„Habt ihr das schon mal probiert? Das ißt die Arbeiterklasse in Italien, schmeckt prima und macht satt.“

Dazu schenkte Pietro, der eigentlich Andrea hieß, was aber einige seiner Gäste verwirrte, die in den letzten Jahren ihre kleinen Töchter so genannt hatten, reichlich Wein aus großen Korbflaschen aus. Beim Lambrusco rekapitulierte die Schar die Ereignisse des heutigen Tages. Roswitha hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sie nickte immer wieder ein, denn sie war schon um halb fünf Uhr aufgestanden und hatte vor Beginn der Frühschicht an den Werkstoren der EPFA Eisenwerke AG die erst um zwei Uhr nachts fertiggestellten Flugblätter verteilt, um die Arbeiterklasse aufzurütteln und für den solidarischen Kampf mit den Studenten zu gewinnen.

„Flugblätter sind wichtig“, dozierte Robert und strich sich mit seinem linken Zeigefinger, den er erst gebieterisch erhoben hatte, die nicht mehr schweißnassen, sondern inzwischen pappigen langen Haare aus der Stirn, „aber sie sind, wie der Name schon sagt, flüchtig. Sie werden oft nur überflogen und dann weggeworfen. Wir brauchen etwas, was länger Bestand hat. Wir brauchen Bücher, die uns und das gesamte Proletariat bei der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und Herrschaftsverhältnisse begleiten.“

„Die gibt’s doch schon“, maulte Kurt, dem drei schnell hintereinander gegen den Durst getrunkene Lambrusco schon etwas in den Kopf gestiegen waren und der sich gerne mit der neben ihm sitzenden Petra etwas privater unterhalten hätte.

„Eben nicht!“, wies ihn Robert zurecht. „Was es gibt, sind schlecht von der Matrize abgezogene Broschüren und marxistische Literatur, die man bei einem Besuch in der DDR kaufen kann. Aber nichts Praktisches, für den Kampf im Alltag. Die bourgeoisen deutschen Verlage stützen das herrschende System. Kapier das doch endlich!“

„Ja und?“

„Was, ja und! Wir müssen das selber machen!“

„Wie“, fragte Karl-Ludwig, „willst du ein Buch schreiben?“

„Vielleicht, vor allen Dingen sollten wir aber Bücher ver-le-gen!“

Robert brüllte das letzte Wort Silbe für Silbe heraus, was Pietro, der am Tresen Gläser spülte, aufblicken ließ. Er drehte die Musik etwas auf, die Mandolinenläufe der Tarantella mischten sich mit der erregten Diskussion der Studenten. Gregor, der sich bisher etwas gelangweilt hatte, erfaßte sofort die Brillanz dieser Idee. Er sah enormen Bedarf, wenig Angebot und vor allem hielt er die meisten seiner Kommilitonen für völlig weltfremd und geschäftsuntüchtig. „Ich bin dabei!“, rief er spontan. Damit war der Funke übergesprungen. Alle wollten dabeisein. Noch in derselben Nacht wurde im Republikanischen Club das „Verlagskollektiv Roter Stern“ gegründet.

Nachdem sich ein paar Burschenschaftler und der RCDS in einem Flugblatt über die Verleger lustig gemacht hatten, die zwar noch kein Buch herausgebracht hatten, aber „im Kollektiv“ auf Befehl lachten, drang Gregor auf eine Namensänderung. Er meinte auch, man sollte die Sache nicht mit verbissenem Bierernst angehen. Ein wenig Ironie käme sicher gut an.

„Du meinst, wir sollten uns selbst ein wenig auf die Schippe nehmen?“ vergewisserte sich Petra und rückte ein wenig in Richtung Gregor.

„Warum nicht, das macht neugierig, weckt Interesse“, haute Kurt in die Kerbe.

„Aufschneider-Verlag“, platzte Roswitha heraus.

„Das ist zu plump“, wiegelte Gregor ab und traf damit die allgemeine Meinung. „Pralhals Verlag“, ließ sich Jette schüchtern vernehmen, Kurts dänische Freundin, welche die ganze Zeit geschwiegen hatte.

„Pralhals – du meinst Prahlhans, oder?“

„Nein, in Dänemark sagen wir pralhans oder pralhals. Bei pralhals versteht doch jeder Deutsche gleich, was gemeint ist, trotzdem klingt es fremd und weckt die Aufmerksamkeit.“

Jetzt erst erkannte Gregor, daß Kurts Freundin mehr als nur äußerliche Qualitäten zu bieten hatte und beschloß, sie ihm auszuspannen. Den ersten Schritt auf diesem Wege machte er, indem er die Gesprächsführung an sich riß, Jette lobte und die Entscheidung verkündete:

„Klasse Idee, Jette, so machen wir’s, prima, Pralhals Verlag. Jeder, der das hört, wird gleich eine Rückfrage stellen und kann sich so den Namen schnell merken.“

Sommer 1970

Zwei Jahre lang war das Verlagsprojekt nicht so recht in Gang gekommen. Das Studium, die politische Arbeit, Beziehungskrisen und allerhand mehr drängten sich in den Vordergrund. Vor allem aber fehlte es an Kapital. Wollten die „langhaarigen Gammler“ in Flower-Power-Kluft ein Buch drucken lassen, wurden die Druckereibesitzer in der grauen Arbeitskutte mit Krawatte drunter stets mißtrauisch und forderten Vorkasse. Daran scheiterte in mehreren Fällen die Bereicherung der Welt des politischen Sachbuchs und die Aufklärung des Proletariats über die herrschenden Mißstände im kapitalistischen System der BRD.

Am 27. Mai 1970 starb dann aber Gregors Großonkel Manfred. Er war ein alter Hagestolz gewesen, der es zu einem kleinen Vermögen gebracht hatte. Zu den Kindern seiner einzigen Schwester hatte er kein besonderes Verhältnis gehabt, ihren Enkel Gregor aber, dessen umtriebiges Wesen ihm gefiel, hatte er gemocht. Gregor war schlau genug gewesen, dies zu bemerken und auch die richtigen Schlüsse hieraus zu ziehen, indem er den Kontakt zu dem alten Herrn nie ganz hatte abreißen lassen. Er hatte auch nicht versäumt, Onkel Manfred von Zeit zu Zeit zu besuchen.

Dann hatte er sich zwar meistens, vor allem in den letzten Jahren, Geschichten aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs anhören müssen, der Großonkel parlierte bei der Gelegenheit, er war in französischer Kriegsgefangenschaft gewesen, auch gerne etwas Französisch, der alte Herr hatte aber auch zuhören können und die Erzählungen seines Großneffen von seinem jugendlich-leichtsinnigen Leben genossen. Besonders hatte er es gemocht, wenn Gregor etwas über, wie Onkel Manfred es nannte, „pikante Abenteuer“ durchblicken ließ. Dann pflegte Onkel Manfred zu seufzen und anzumerken, sie seien damals ja auch nicht von gestern gewesen, aber das sei mit der „kolossalen“ heutigen Freiheit selbstverständlich nicht zu vergleichen, wo es doch jetzt diese Pille gäbe und man auch vor Geschlechtskrankheiten keine Angst mehr haben müsse.

Dieser Onkel Manfred also hatte Gregor zu seinem Alleinerben eingesetzt. Gregor war klug genug, dies für sich zu behalten. Es war ihm zuwider, ständig angeschnorrt, noch hatte er Lust, zu namhaften Spenden für den heldenhaften Befreiungskampf des vietnamesischen Volkes genötigt zu werden. Er ging erst einmal zur Sparkasse, bei welcher der Großonkel sein Depot geführt hatte. Dort ließ er sich ausführlich beraten und nahm als Ergebnis der dem langhaarigen Gammler etwas gönnerhaft gewährten Beratung mit, daß man nicht alles auf ein Pferd setzen sollte. Diese Empfehlung setzte Gregor auch um, allerdings ging er hierfür zur Volksbank, deren Anlageberater in seinem Alter war, statt eines mausgrauen Anzugs mit Weste wie der Sparkassenmitarbeiter, einen hellbraun gemusterten Sakko im Flower-Power-Dessin und ein lindgrünes Hemd mit zehn Zentimeter langen Kragenspitzen trug. Die zu einem fast faustdicken Knoten gebundene leuchtfarben-grüne Krawatte vervollständigte das Bild jugendlich-dynamischer Kompetenz.

Mit einem Teil seines Geldes wollte er dem Pralhals Verlag auf die Sprünge helfen. Seinen Genossen erzählte er etwas von einem Kredit, den er von einem Verwandten erhalten hätte, sie hinterfragten den ihnen plötzlich zur Verfügung stehenden finanziellen Spielraum auch nicht lange. Die Hauptsache war, die Kohle stand zur Verfügung und man konnte mit der Verlagsarbeit richtig loslegen.

Man verlegte allerlei. Die Hauptsache war, es handelte sich um nichts Bürgerliches; je provozierender desto besser. Marxistisch-theoretische Schriften spielten keine Rolle, den Hirnschmalz hierfür wollte keiner aufwenden, außerdem gab es das ja alles in der DDR zu kaufen.

Das erste im Pralhals Verlag erschienene Werk stammte von einem Autorenkollektiv und trug den Titel „Die Erziehung zur Überwindung bürgerlich-faschistischer Moralvorstellungen durch freie Zonen der Liebe in den Schulen“. Mit den „freien Zonen der Liebe“ waren Räume gemeint, in denen Schüler, zu zweit oder zu mehreren, in den Pausen und darüber hinaus ihren Geschlechtstrieb ausleben können sollten. Das Buch wurde ein Verkaufsschlager, denn nicht nur Schüler, Lehrlinge und Studenten kauften es, sondern auch, freilich aus pädagogischen Gründen, viele Lehrer und noch mehr lüsterne Erwachsene, die sich eine wohlig-schaurige Entrüstung gönnen wollten.

Frühjahr 1972

Nach dem phänomenalen, auch wirtschaftlichen Erfolg mit den „Freien Zonen“ folgten als weitere Bestseller Titel wie „Schwinge in der Matte! Eine Dekonstruktion des Fleißes“ oder „So werde ich, wer ich wirklich bin“. Bei letzterem Œuvre handelte es sich um eine sozialpädagogisch-psychologische Anleitung zur Überwindung von Klassenschranken auf dem Weg zur Selbstverwirklichung.

Neben den üblichen Vertriebskanälen – die Barsortimenter erkannten auch sehr schnell, daß sich mit den Büchern des Pralhals Verlages Geld verdienen ließ – wurde ein altes Vertriebsmodell wiederbelebt. Es handelte sich um eine Art Kolportage. Die männlichen Genossen hielten sich eine Schar Schülerinnen und Studentinnen der Anfangssemester, welche für lächerliche Provisionen oder auch ohne Entlohnung an Schulen, Universitäten, in Studentenclubs und sonstwo die Bücher im Direktvertrieb verkauften. Dafür durften die, völlig ungeniert „Hühner“ genannten, Mädchen und jungen Frauen bei den stark angesagten Parties der Genossen des Kollektivs des Pralhals Verlages mitfeiern, ihre Verklemmtheit überwinden und der Befriedigung der Kollektivherren dienen. Überhaupt genossen diese Lustbarkeiten während derer man sich gerne mit diversen Hilfsmitteln in höhere Bewußtseinssphären versetzte, einen hohen Ruf in den einschlägigen Kreisen.

Herbst 1975

Das leicht verdiente Geld war bald wieder dahin. Das Kollektiv zerstritt und verlief sich. Robert und Petra stiegen rechtzeitig aus, da sie wegen des Radikalenerlasses fürchteten, nicht als Studienassessoren eingestellt und auf Lebenszeit verbeamtet zu werden. Roswitha blieb ihren Idealen treu und kämpfte fortan als Richterin am Arbeitsgericht für die unterdrückte Arbeiterklasse, Karl-Ludwig ging nach Indien, um Sitar spielen zu lernen und zu meditieren. Jette, die schon seit Studienbeginn ihr Geld als Vorführdame verdient hatte, war schon seit langem ein gefragtes Fotomodell.

Am Ende blieb nur einer dabei, nachdem er den anderen ihre Anteile für einen Appel und ein Ei abgeschwatzt hatte. Dieser eine war Gregor Hambach. Als Geschäftsmann war er ebenso talentiert wie durchtrieben. Er schwamm politisch mit dem Strom, konnte und wollte aber im Grunde mit dem ganzen marxistischen und sonstigen Überbau nichts anfangen. Der Nimbus des linken spontanen, jugendlich frech-frischen Verlags wurde weiterhin gepflegt, das Programm aber so erweitert – schließlich waren auch die treuen Kunden der Anfangszeit inzwischen älter geworden –, daß nicht nur der sich auf dem Marsch durch die Institutionen Befindliche für sich etwas Passendes unter den verlegten Büchern fand. So lief der Verlag eine Reihe von Jahren sehr ordentlich und Hambach, immer noch äußerlich im Habit des unangepaßten Revoluzzers, verdiente prächtig.

Frühjahr 1999

Vielleicht war es sein Instinkt, der ihm sagte, auf Dauer würde dies so nicht weitergehen, möglicherweise hatte er auch keine Lust zum Arbeiten mehr, jedenfalls hatte er den Verlag eines Tages in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Dann landete er den großen Coup, indem er ihn an die Börse brachte. In der Zwischenzeit hatte sich Hambach auch ein paar Anzüge schneidern lassen und trug erforderlichenfalls sogar eine Krawatte. Stichworte wie „strategische Allianzen“, bessere „exploitation der Intellectual Property Rights“ gingen ihm flüssig von den Lippen. Spötter sagten damals, mit dem Intellekt sei es zwar nicht so weit her, aber, mehr Kohle aus den Urheberrechten ziehen zu wollen, sei schon in Ordnung. Neben seiner Beredsamkeit war es vor allem der Plan, sich als Produzent in der Film- und TV-Branche betätigen zu wollen, der viele Kleinaktionäre ebenso wie finanziell potente Finanzinvestoren anlockte. Der weltläufige Hauch des Film- und Fernsehgeschäfts weckte Phantasien.

Es gab aber auch andere Financiers. Ein Herr, der mit Belletristik eher weniger anzufangen wußte, erwarb für einen namhaften Betrag ein größeres Aktienpaket, weil seine Frau gerne las und sie in ihrem gediegenen Heim eine schöne Bücherwand hatten. Der passende Verlag dazu hatte bislang gefehlt. Die Börseneuphorie war insgesamt groß und so gelang es, für die Aktien den völlig überzogenen und bald darauf nicht mehr nachvollziehbaren Betrag von 80 Millionen Euro als Kapital für die Gesellschaft einzusammeln. Der Börsenkurs zog an, Hambach verkaufte seine Aktien und zog sich aus dem Geschäftsleben als Multimillionär auf seinen Wohnsitz in Gstaad zurück.

Herbst 1999

Es ging hoch her in der Aufsichtsratssitzung. Des neuen Status des Unternehmens eingedenk, hatte man in einem der „Leading Hotels Of The World“ einen Salon gemietet. Ein Etagenkellner stand zur ständigen Verfügung der Herren. Übelacker meckerte: „Für das Geld hätten die wenigstens eine hübsche Kellnerin schicken können“, aber Übelacker war in der Aufsichtsratsrunde als Nörgler bekannt und man ließ sich den gereichten Imbiß schmecken und trank Bordeaux dazu. Übelacker wollte wieder eine Extrawurst gebraten haben und bestellte einen Burgunder, „aber nur Côte de Beaune“, den Bordeaux vertrage er nicht, er sei ihm zu schwer.

Mit der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft war auch die Errichtung eines Aufsichtsrats unumgänglich geworden. An interessierten Kandidaten war kein Mangel gewesen. Den Engpaß bei der Besetzung des Gremiums hatte eher die wünschenswerte Qualifikation der Aufsichtsratsmitglieder dargestellt. Zahlreiche Kandidaten brachten sich ins Spiel. Pensionierte Bankangestellte, gescheiterte Verleger und Freiberufler jeglicher Couleur: Sie alle spekulierten auf einen gutdotierten Posten als Frühstücksdirektor mit wenig Zeitaufwand und bei guter Verpflegung. Die Überlegung, daß das Amt mit Arbeit und Verantwortung verbunden sein könnte, spielte eine eher untergeordnete Rolle. Im übrigen strebten sie den Verlockungen eines Verlags nach, der sich, wie ein junger Hirschbock mit glänzendem Fell und prächtigem Geweih, anschickte, im internationalen Revier des Verlagswesens die Platzhirsche herauszufordern.

Die Büroräume des Verlags, in denen der Aufsichtsrat in der ersten Zeit getagt hatte, waren bewußt unverändert geblieben. Man wollte das unangepaßte, alternative Image pflegen, nicht so „kommerziell“ wirken. Der Aufsichtsrat hatte es dann aber schließlich abgelehnt, im Besprechungsraum zu tagen, wo die Belegschaft häufig zu Mittag aß und der Aufsichtsratsvorsitzende jedes Mal mit leichter Empörung die Empfangsdame anwies, den Tisch abzuwischen, um die Fett- und Kaffeeflecken zu entfernen. Klebrige Sektreste waren manchmal auch dabei. Außerdem war man der Brötchen vom Metzger um die Ecke überdrüssig.

Man hatte die Einnahme der Stärkung an den Beginn der Sitzung verlegt, weil zwei Aufsichtsratsmitglieder erklärt hatten, anschließend noch wichtige Termine zu haben und nicht bis zum Ende bleiben zu können. Die Herrschaften tafelten in bester Laune. Geschichten aus alten Zeiten wurden erzählt, der Etagenkellner holte Nachschub an Bordeaux, auch Übelacker gab dem Kellner mit der rechten Hand ein lässiges Zeichen, daß er von dem Côte de Beaune noch eine Flasche bringen könnte.

Marschner als Vorsitzender eröffnete schließlich die Sitzung.

„Meine Herren, wie Sie wissen haben wir heute eine bedeutende Entscheidung für unser Unternehmen zu treffen. Die Position des Vorstandes unserer Aktiengesellschaft ist zu besetzen. Der Personalausschuß hat sich mit der Identifizierung geeigneter Kandidaten sehr viel Mühe gegeben.“ Er neigte den Kopf ein wenig in Richtung der drei Mitglieder des Ausschusses: „Ich danke Ihnen sehr, meine Herren.“

Einer der angesprochenen blickte leicht verlegen nach unten. Denn in Wahrheit hatte nur ein einziger von den dreien einen befreundeten Headhunter angerufen, sich ein kick-back aus dem sechsstelligen Vermittlungshonorar versprechen lassen und die Kandidatenvorschläge des Personalberaters einfach Marschner weitergeleitet. Zwei Mitglieder des Ausschusses hatten überhaupt nichts getan, einem der beiden war dies wenigstens peinlich. Marschner hatte die fünf ersten Gespräche mit den Kandidaten geführt, zwei Damen und zwei Herren aus unterschiedlichen Gründen als nicht geeignet abgelehnt und nur einen gewissen Herrn Christmann empfohlen, dessen entschloßen-dynamisches Auftreten ihm imponiert hatte. Dieser sollte sich heute vorstellen. Falls er die Zustimmung des Aufsichtsrats fände, war geplant, sogleich die Vertragsdetails mit ihm zu besprechen.

„Unser Kandidat, Herr Christmann, wird gleich hier sein. Gibt es vorab noch Fragen zu seiner Person?“

Oberflächlich überflogen die Herren die Tischvorlage mit den Unterlagen zu Christmanns Werdegang.

„Ich verstehe gerade nicht“, fragte Czerwinsky, „wo steht das denn? Hat denn der Christmann noch nie einen Verlag geleitet?“

„Darauf kommt es doch nicht an“, entgegnete Marschner barsch. Wir brauchen keinen schöngeistigen, bildungsbürgerlichen Verlagsleiter, sondern einen Mann mit Visionen und internationaler Erfahrung, der die Aktiengesellschaft neu aufstellt und global positioniert.“

„Ach so, der hat Visionen! Klar, der Name läßt schon darauf schließen: Gotthelf Maria Christmann, offensichtlich ein kontemplativer christlicher Mystiker. Ob das die richtige Besetzung für den Posten ist?“ spottete Dahlmann, was übrigens dessen letzter Wortbeitrag in einer Aufsichtsratssitzung war. Bei der nächsten Hauptversammlung wurde er wegen mangelnden Verständnisses der neuen Strategie des Verlages durch einen geeigneten fortschrittlichen Kandidaten ersetzt.

Christmann wurde in den Raum gebeten und stellte seine drahtige Figur vor. Er wäre Ultralangstreckenläufer, verkündete er mit einem gewissen Hochmut und tatsächlich ließen seine tief in ihren Höhlen liegenden Augen auf brennenden Ehrgeiz und eine gewisse Besessenheit schließen. Natürlich stand er nicht an, seine Visionen ausführlich darzulegen. Dahlmann verdrehte die Augen und schwieg. Der Gott, dem dieser Christmann mit seinen Visionen näherkommen will, ist der Mammon, sagte er sich. Das ist ja in Ordnung, es soll schließlich Geld verdient werden. Aber mir scheint, diesen Mann gelüstet es viel mehr nach Macht und Befriedigung seiner Eitelkeit als Aktionären eine Dividende zu erwirtschaften.

Christmann trug also seine Visionen vor:

„Ich werde aus Pralhals einen international agierenden Medienkonzern machen. Wir müssen groß denken, nach vorne denken. Gedruckte Bücher sind auf Dauer ein Auslaufmodell. Dementsprechend ist das Verlegen von gedruckten Büchern ein Businessmodell ohne längerfristige Perspektiven. Das Netz ist die Zukunft und die digitalisierte Welt ist unsere Welt! Wir müssen uns besser vernetzen, vor allen Dingen international! Strategische Partnerschaften werden uns weiterbringen. Pralhals hat einen guten Namen, dieser muß für den Einstieg in die Medienwelt genutzt werden!“

Mit einer Ausnahme nickte der Aufsichtsrat einhellig und fast gleichmäßig mit den jeweiligen Köpfen, wie eine Reihe von Wackeldackeln auf der Hutablage eines Opel Rekord von 1972.

„Ich danke Ihnen sehr“, sagte Marschner, stand auf, blickte sich stolz ob seiner exzellenten Kandidatenauswahl im Kreis der anderen Aufsichtsräte um und schüttelte Christmann, der ebenfalls aufgestanden war, nachdrücklich die Hand.

„Ich glaube, das genügt Herr Christmann. Oder gibt es Einwände?“

Den Aufsichtsräten paßte es nicht, so überfahren zu werden, da sie aber, mit einer Ausnahme – und diese Ausnahme hatte keine Lust sich Ärger einzuhandeln – von den Ausführungen des Kandidaten überzeugt waren, wackelten sie erneut.

Die Vertragsdetails wurden gleich anschließend zu Christmanns völliger Zufriedenheit geregelt und Marschner, der die Spendierhosen anhatte, ließ Champagner kommen. Den beiden Aufsichtsräten, die erklärt hatten, wegen ihrer Folgetermine schon früher gehen zu müssen, gelang es – wenngleich nur unter größten Mühen – , die anschließenden Termine zu verschieben, und so saß man noch eine Weile in fröhlicher Runde zusammen, ehe man sich in die Hotelbar begab.

Christmann hatte also freie Hand, seine Visionen nach und nach umzusetzen, ohne wirkliche Hürden überwinden zu müssen. Auch die Aktionäre stellten kein Hindernis dar. Sie wurden auf den jährlichen Hauptversammlungen gut bewirtet. In satten Farben und mit breiten Pinselstrichen malte der Vorstand die Zukunftsaussichten des Verlages und die zwar nicht ausdrücklich versprochenen, denn das wäre gefährlich gewesen, aber doch geschickt in Aussicht gestellten Dividenden ließen die Aktionäre verstummen, denn jeder kritisch Nachfragende hätte sich vor der ganzen Versammlung als kleinkarierten Pedanten bloßgestellt.

Dessen ungeachtet verschmähte er auf seiner Einkaufstour aber auch Buchverlage nicht. Gekauft wurde, was der Markt so hergab: Ein Motorsportverlag, ein Unternehmen für populärwissenschaftliche Ratgeberliteratur und ein Schulbuchverlag. Mit dem Erwerb eines Anbieters von Seminaren und Fortbildungsveranstaltungen war aber noch lange nicht Schluß. Vielmehr waren diese Akquisitionen nur Übungen, zum Aufwärmen sozusagen. Christmann ging es nicht nur darum, in der ersten Reihe der deutschsprachigen Verlage zu stehen und über die einschlägigen Branchenreports hinaus auch in den Feuilletons erwähnt zu werden. Er träumte davon, der deutsche Medienzar zu werden, ein „Promi“ mit Geld, Macht und Einfluß in höchsten Kreisen.

In Werbung und Öffentlichkeitsarbeit wurde das bisherige Bild des Hauses weiter gepflegt. Auch an den leicht chaotisch wirkenden Verlagsräumen wurde nichts verändert. Die Geschäftsreisen hingegen wurden zahlreicher und kostspieliger, die aufgesuchten Hotels luxuriöser und die Verlagsveranstaltungen aufwendiger.

Um zum modernen, also zeitgeistgemäßen Medienunternehmen zu werden, wurden die angekündigten strategischen Partnerschaften eingegangen. Gemeinsam mit diesen Partnern sollten neben den Büchern auch Filme, Tonträger, Videospiele und Online-Aktivitäten entfaltet werden. Hinzu kam natürlich das merchandising. Kaffeepötte mit bekannten Namen drauf sollten das große Geld bringen.

Leider zeigte sich, daß es manchmal nicht gut ist, wenn man seine ersten Erfahrungen auf einem neuen Geschäftsfeld gleich in ganz großem Stil sammelt. Nach der altbekannten Kaufmannsweisheit liegt der Gewinn im Einkauf. Wer etwas weiterdenkt, versteht, daß es sich mit dem Verlust nicht anders verhält. Der schnellebige Wind der Moderne drehte sich, der Plunder verstaubte in den Regalen, weil die Kunden inzwischen schon wieder einem anderen Trend nachliefen.

Die viel zu teuer eingekauften Lizenzen drückten stark auf das Jahresergebnis. Allein dies focht Christmann nicht an. Er dachte groß und weit nach vorne schauend. Für Film- und Fernsehproduktionen wollte er alles abgreifen, was erreichbar war. Die Idee, eine Schauspielschule zu eröffnen, verwarf er wieder, obwohl ihn der Gedanke, sich bei der Auswahl der Schauspielschülerinnen verstärkt persönlich einzubringen, sehr gereizt hatte. Indessen sagte er sich zu Recht, ein Film ohne Musik sei nicht denkbar und damit sei auch gutes Geld zu verdienen. Also wurde die Tochtergesellschaft Crazy Music GmbH gegründet. Man ging mit der Mitteilung an die Öffentlichkeit, daß für das Jahr der Gründung ein Umsatz von drei Millionen Euro geplant sei, die in den folgenden Jahren jeweils verdoppelt würden. Solche Planzahlen brauchte man nicht nur, um die Aktionäre bei Laune zu halten. Angesichts horrender Kosten für Berater, Fachleute und wichtige Manager, von den Spesen einmal ganz zu schweigen, mußte man schon das Verhältnis wahren.

Wenn sich jemand neu auf einem Markt tummelt, gerät er meistens erst einmal an sehr beredte Personen, die strahlende Szenarien vor dem geistigen Auge ihrer Kunden entstehen zu lassen in der Lage sind, ihren persönlichen Engpaß indessen eher im Fachlichen haben. Von der eigenen Größe und Einsichtsfähigkeit überzeugt, spaltet der Kunde willig seinen kritischen Verstand ab und verwahrt ihn in einer selten aufgesuchten Ecke seines Gehirns, denn das, was man gerne hören möchte, hört man eben gerne ungestört, wenn es dann tatsächlich gesagt wird. So begab es sich auch in diesem Fall.

Oktober 1997

Angefangen hatte alles mit der Idee Christmanns, ein komplettes Medienpaket zu schnüren, was er freilich nicht so nannte. Integrated Media Cross-Selling Strategy, kurz IMCS war das Schlagwort. Er erwog seine Visionen einige Zeit für sich in seinem Busen, bevor er damit herausrückte. Erst wurde die Hausjuristin Frau Krämer mit seinen bahnbrechenden Ideen und Erkenntnissen beglückt. Da sie sich aber nicht von der Brillanz des Planes hingerissen zeigte, fiel sie in Ungnade und wurde von weiteren Informationen abgeschnitten. Der Unternehmensberater Dr. Thorsten Lindkamp wurde ins Vertrauen gezogen und mandatiert. Sein überlegen-weltläufiges Auftreten beeindruckte Christmann. Mit solchen Leuten ließ sich etwas anfangen, dachte er, ließ sich nach vorne gehen, angreifen, Märkte erobern.

Christmann leuchtete ein, sein challenge war, die purpose-Säule seiner agilen Organisationsentwicklung durch ein gemeinsames Organisationsverständnis von Vision, Mission und Werten valide zu implementieren; Lean Management in der Inkubations-, Transformations- und Performance-Phase.

28. März 1998

Von derartigen Einsichten bewegt, besuchte er die Musikmesse in Frankfurt am Main. Er schlenderte durch die Gänge, kam auch mit dem einen oder anderen ins Gespräch, ohne daß sich aber konkrete, weiter zu verfolgende Geschäftskontakte ergeben hätten. Etwas enttäuscht suchte er am Abend noch Jimmy’s Bar auf. In der stilvollen Atmosphäre einer klassischen Bar mit einer Wandvertäfelung, die farblich mit edlen Cognacs, Whiskys und Calvados‘ harmonierte, wollte er nach dem Abendessen noch einen Single-Malt trinken und über die challenges von IMCS nachdenken.

Eine attraktive Dame um die vierzig gesellte sich zu ihm an die Bar, bat ihn um Feuer, beugte sich beim Anzünden zu ihm hinüber und gewährte dabei tiefe Einblicke. Sie begann, etwas Konversation zu machen, aber Christmann war nicht in Stimmung. Die Bar war inzwischen brechend voll, Messegäste, einheimische Nachtschwärmer und Lebemenschen standen plaudernd herum. Sitzplätze gab es längst keine mehr. Die bläulichen Schwaden der Zigarren und der Geruch des Alkohols bildeten für Christmann eine anregende Mischung, die ihn in eine hoffnungsvolle Stimmung versetzte. Der Mann am Flügel interpretierte „New York, New York“ und Christmann dachte, ja, das ist es, da gehöre ich hin. Ich ziehe das ganz groß auf. International.

In diesem Moment verschwand die Dame neben ihm und suchte sich ein anderes Opfer. Den freiwerdenden Platz an der Theke nahm im Handumdrehen ein jüngerer Mann von vielleicht dreißig Jahren ein, großgewachsen, schlank und mit einem gewaltigen Kolben von Zigarre im Mund. Er grinste Christmann jungenhaft-frech an. Dieser grinste zurück und sagte:

„Glück gehabt.“

„Nein“, versetzte der Kolbenraucher, „clever gewesen.“

Aha, dachte Christmann, an Selbstbewußtsein fehlt’s dem nicht.

„Ist das eine Cohiba, was sie da rauchen?“ fragte er, weil er keine Lust mehr hatte, weiter vor sich hin zu sinnieren.

„Nein“, bekam er zur Antwort, „Cohibas sind zwar sehr gut, aber die hier ist noch besser, eine Hoyo de Malpartida aus Vuelta Abajo in Kuba, dem besten Tabakanbaugebiet der Welt. Handgerollt auf den nackten Schenkeln junger Mulattinnen.“

Er grinste lüstern.

„Lassen Sie sich von Andrés eine geben. Er hat nicht mehr viele im Humidor. Wenn er sieht, daß Sie bei mir sitzen, wird er Ihnen aber noch eine herausrücken.“

Tatsächlich wurde Christmann vom Barchef Andrés auch mit einem dieser gewaltigen puros versehen. Als Christmanns Gesprächspartner mitbekam, was jener trank, konnte er sich einen leicht verächtlichen Blick nicht verkneifen. Er rief Andrés, verhandelte mit ihm auf spanisch und kurz darauf bekamen sie eine noch fast volle Flasche vor sich auf die Bar gestellt.

„Übrigens, ich bin Tom, Tom Schlickers. Sorry, aber jetzt wollen wir mal was Gescheites trinken. Dieser Whisky ist von einer kleinen schottischen Insel, 25 Jahre alt, in Sherryfässern gereift. Das Besondere daran ist, daß die Lagerschuppen direkt am Meer stehen. Der Salzgeschmack der Seeluft ergibt einen herrlichen blend. Cheers!“

Schlickers war ein unterhaltsamer Plauderer, der offensichtlich mit der schicken Welt, die Christmann gerne betreten wollte, auf Du und Du stand. Sie verstanden sich prächtig. Schlickers erzählte Jet-Set-Anekdoten und Christmann, der nicht viel vertrug und dem bereits der vorangegangene Whisky leicht zu Kopf gestiegen war, öffnete sich und eröffnete Schlickers seine Pläne und Träume.

„Mensch Godo“ – Christmann hatte sich geniert, seine Vornamen Gotthelf Maria zu nennen – „so ein Zufall! Weißt du, was ich die letzten zweieinhalb Jahre gemacht habe? Musikmarketing! Ich hab‘ die Black Diamond Sisters hochgebracht und der Hip Hopper Big Bad Babybody hat seinen Welterfolg praktisch mir zu verdanken. Ich kenne in der Musikszene so gut wie jeden.“

Christmann war überwältigt. Den Hit von Big Bad Babybody kannte er, der eingängige Refrain: „Baby Baby, Body Body“ war wirklich ein Ohrwurm und ein riesiger Erfolg. Da telefoniert man im Büro mit tausend Leuten, dachte er, rennt auf der Messe rum und es tut sich nichts. Kaum geht man mal in eine gescheite Bar einen trinken, fallen einem die Kontakte in den Schoß. Der Tom, das wäre doch der richtige Mann als Geschäftsführer für die Crazy Music GmbH. Leicht benebelt, wie er war, wußte er nicht, ob er Schlickers ein Angebot machen sollte oder ob er sich damit blamierte, weil die Crazy Music noch in den Startlöchern stak. So wankte er erst einmal zur Toilette, wusch sich das Gesicht und sagte seinem Spiegelbild:

„Was der kann, kann ich schon lange. Dem verkaufe ich die Crazy Music als das größte Projekt seit Hannibals Alpenüberquerung mit Elefanten.“

Zurück an der Theke versuchte Christmann, Schlickers die Position schmackhaft zu machen. Er bekam unpassenderweise einen Schluckauf und die lässig-überzeugende Präsentation des Angebots mißlang. Schlickers‘ Augen blitzten. Er antwortete lediglich:

„Du Godo, das muß ich mir gut überlegen. Ich würde dir ja schon gern den Gefallen tun, aber weißt du, ich habe da noch ‘ne andere Sache am Laufen. Ein Mordsding, kann da jetzt nicht näher drüber reden.“

Als er merkte, daß Christmann enttäuscht war und nicht weiter nachfassen würde, fügte er an: „Na ja, andererseits habe ich gerade ein großes Projekt abgeschlossen und könnte die Crazy Music zeitlich reinschieben. Klingt ja auch sehr interessant. Du hast schon recht, aus der Idee kann man etwas machen.“

Christmann atmete tief bis ins Zwerchfell und bekam wieder etwas mehr Farbe ins Gesicht.

Der Ausgang der Geschichte ist vorhersehbar und schnell erzählt. Schlickers verstand weder von Musik noch vom Musikgeschäft etwas, war aber charmant im Umgang mit jedermann; ein hochstapelnder Aufschneider, dem die Sympathien nur so zuflogen. Er ließ sich ein teures Büro einrichten und hatte klare Vorstellungen dahingehend, wie schmuck seine Marketingassistentinnen aussehen mußten. Mit seinen Vorstellungen zur Marketingstrategie konnte er Christmann allerdings nicht überzeugen. Dieser merkte irgendwann einmal, daß Schlickers fast nie in seinem Büro und auch sonst sehr schwer zu erreichen war. Sein Marketingkonzept war völlig unbrauchbar, seine angeblich phänomenalen Kontakte stellten sich als Luftblasen heraus und seine ständigen Abwesenheiten, die zwar durch Spesenabrechnungen dem Grunde nach belegt waren, brachten kein Geschäft. Leider hatte sich Christmann in der Euphorie der ersten Tage und aus Angst, sich einen erstklassigen Akquisiteur und Geschäftsführer durch die Lappen gehen zu lassen, dazu drängen lassen, einen hochdotierten Fünfjahresvertrag mit Schlickers abzuschließen. Dieser hatte Christmann gegen einen anderen, wahrscheinlich nichtexistierenden, Auftraggeber ausgespielt und zeitlich unter Druck gesetzt. Christmann wurde Schlickers erst nach langen, quälenden Rechtstreiten und unter Zahlung einer unglaublichen Abfindung los. Danach waren Musik und Musikrechte kein Thema mehr, die Crazy Music GmbH wurde abgewickelt.

Trotz allem war die Kriegskasse immer noch ordentlich gefüllt. Von einem alten Freund wurde Christmann dann ein Unternehmensberater mit phantastischen Kontakten in Los Angeles empfohlen. Dieser hatte in jungen Jahren als Zuhälter gut verdient, investierte dann in breiterem Umfang in der Rotlichtbranche und beschloß, mit 40 Jahren seriös zu werden. Die Bordellbeteiligungen wurden verkauft und dafür Spielhallen erworben. Das war das eine Standbein. Im übrigen war es ihm tatsächlich gelungen, über seine Halbweltverbindungen Kontakte in die Filmbranche aufzubauen und er kannte auch wirklich einige Leute in Hollywood.

Beim ersten Gespräch mit Christmann beeindruckte er diesen durch mehrfaches beiläufiges Erwähnen seiner hochberühmten „Freunde“ in Malibu, Bel Air, Pacific Palisades und Beverly Hills. Ganz nebenbei wurden auch ein paar Bilder vom Handy vorgezeigt, welche die persönlichen Kontakte mit den wichtigen Persönlichkeiten belegten. So kam man schnell ins Geschäft. Ein Beratervertrag wurde abgeschlossen und schon recht bald stand Christmann in Verhandlungen mit den Golden Valley Universal Studios über ein joint venture. Daß Pralhals, als der kleinere und unbedeutendere Partner in den Verhandlungen Federn lassen mußte, sah Christmann ein. Auf dem Weg nach oben muß man eben manchmal auch Kröten schlucken. Die beiden Dienstreisen nach Kalifornien waren jedenfalls nicht schlecht gewesen, meine Güte, man hatte es richtig krachen lassen.

Aber ach, der Grund des Goldenen Tals war doch nicht so gülden. Das Unternehmen war dermaßen pleite, daß der kalifornische Insolvenzrichter keinen Ansatzpunkt für das bekannte unternehmenserhaltende Chapter Eleven-Verfahren sah. Die Golden Valley Universal Studios Inc. wurden abgewickelt, die hohen Anzahlungen des Pralhals Verlages für das gemeinsame Filmprojekt waren verloren. Die gewaltigen Spesen hatte schon die Gewinn- und Verlustrechnung von Pralhals des vorangegangenen Geschäftsjahres verdauen müssen.

Das Ende vom Lied war, daß all diese aussichtsreichen Investitionen Christmann und weiteren Herren einigen Spaß bereitet, die Aktionäre aber um ihr Geld gebracht hatten. Der Kurs der Ein-Euro-Aktie, der zu Spitzenzeiten 24 Euro betragen hatte, fiel auf 31 Cent. Der größte Teil der durch den Börsengang eingesammelten 80 Millionen Euro war vernichtet. Christmann und seine befreundeten Berater hatten nichts anderes als eine gewaltige Feuersbrunst mit dem Geld, das andere ihnen anvertraut hatten, entfacht. Je nach Phantasie hätte man sich vorstellen können, welch einen Berg das Geld in Fünf-Euro-Scheinen oder in Fünfhundert-Euro-Scheinen ergeben hätte. Angezündet – und eine riesige Lohe hätte alles bald verzehrt. Der Nutzen des Geldes wäre der gleiche gewesen: weg.

Eine Menge Ärger gab es auch auf der gesellschaftsrechtlichen Ebene. Die komplizierten Regularien einer Aktiengesellschaft, zumal einer, die an der Börse notiert ist, machten die Geschäftsabläufe schwieriger und verwickelter. Mehrere Rechtsstreite mit Gesellschaftergruppen banden Ressourcen wie Zeit, Geld und Konzentration auf das Geschäft. Hauptversammlungen mußten mit einem ähnlichen Zeit- und Kostenaufwand vorbereitet und durchgeführt werden, wie dies bei einem Großunternehmen der Fall ist. Hochspezialisierte Berater und Organisatoren forderten exorbitante Honorare und mehrere Abteilungen des Hauses waren monatelang kaum mit etwas anderem beschäftigt. Unruhe herrschte auch bei den Mitarbeitern, denen unklar war, welche Interessen hinter den Aktionärsgruppen standen und was diese mit dem Verlag vorhatten. So wurde der letzte Rest des eingesammelten Geldes vertan.

Irgendwann verloren Aufsichtsrat und Aktionäre die Geduld. Christmann wurde abberufen.

Damit, liebe Leserin, lieber Leser, beginnt die Geschichte des Romans unter dem Arbeitstitel „Der Verlag“. Sobald es hierzu etwas Neues gibt, erfahren Sie dies hier, in meiner Netznische.

Herzlichst

Matthias Alexander Wolf

(Ex-)Schneewittchen und Schnabeltasse oder die zweite Attacke

Hochverehrtes Publikum!

Die Liebesgeschichte, welche ich Ihnen jetzt darstellen werde, ist unverrückbar wahr, so wahr, wie die Fixsterne am Himmel befestigt sind, und so voller wunderlicher Geschehnisse, daß mancher glauben mag, sie sei in einer milden, klaren Sommernacht unter funkelndem Sternenhimmel nach dem Genusse etlicher Gläser frischen Weines beim Gesange der Zikaden, umleuchtet von lautlos huschenden Glühwürmchen, ersonnen.

Nichts davon! „Was ist Wahrheit?“ fragte Pilatus schon sich und die Juden. Die Frage ist bis heute ungeklärt. Wir wollen gleichwohl das Beackern solch steiniger Felder stärkeren Geistern überlassen.

Genug der Vorrede! Bühne frei, wir beginnen!

Als Bühnenbild dient uns eine Frankfurter U-Bahnstation. Einziges Requisit: ein Fahrkartenautomat. Jawohl, einer dieser grün-bläulichen Blechkästen, deren Farbe, für die ich keinen Begriff weiß, so gar nichts Romantisches hat.

Hermann-Joseph – bitte ihn immer mit beiden Vornamen ansprechen und im Schriftverkehr korrekt auf das schicke „ph“ am Josephsende achten, bitte sehr – Hermann-Joseph also steht eines grauen, kühlen Spätherbsttages in der U-Bahnstation am Fahrkartenautomaten. Vor ihm ist eine Dame, deren rückwärtige Ansicht durchaus das Interesse Hermann-Josephs (bitte auch hier in der gebeugten Form des zweiten Falles das „ph“ nicht vergessen!) erweckt. Er langweilt sich daher auch nicht, als die Dame etwas umständlich und mühsam offensichtlich ihr letztes Kleingeld zusammenklaubt und in den Schlitz wirft. Es reicht nicht, sie muß den Vorgang abbrechen. Nach einigem Rattern und Klappern findet sie ihre Münzen im Ausgabefach wieder.

Was dies mit einer Liebesgeschichte zu tun habe, fragen Sie? Sehr viel, Sie werden es gleich sehen.

Nun versucht die Dame ihr Billett mit einem Geldschein zu bezahlen. Der Automat gibt ihr die Banknote dreimal zurück und behält den begehrten Fahrschein weiterhin für sich. Da schlägt Hermann-Josephs Stunde! Er hatte sich in der Zwischenzeit weiter vorgewagt und hat jetzt einen Blick auf das Profil der Dame erhascht. Donnerwetter, was für ein Profil! Das ihres Gesichts selbstredend, Hermann-Joseph ist ein feiner Herr. Da jene Konturen aber gehalten haben, was die rückwärtige Ansicht versprochen hatte, reitet er, der eigentlich sehr schüchtern ist – hierauf komme ich gleich noch zu sprechen –, eine Attacke, die ihm nicht allzu schwer fällt, da er als feiner Herr äußerst höflich und zuvorkommend ist: „Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, gnädige Frau, Schnabeltasse mein Name, Hermann-Joseph Schnabeltasse. Ja, ich weiß, mein Name ist etwas ungewöhnlich. Ich sehe Sie in Verlegenheit. Dürfte ich Ihnen vielleicht mit etwas Kleingeld aushelfen?“ Die Dame wendet sich ihm zu. Oh, diese Augen! Zwei übergroße Mandeln mit dunklen Pupillen richten sich auf ihn. Er fühlt sich getroffen, entflammt, versengt.

Liebes Publikum, Sie werden festgestellt habe, daß die Jugend unserer beiden Darsteller schon etwas fortgeschritten ist, sonst hätte man sich elektronischer Zahlungsmittel bedient. Verzeihen Sie die Unterbrechung, aber das gehört zum Thema.

Ihre ausdrucksvollen Augen voller Strahlkraft sitzen in einem hübschen, sehr bleichen Angesicht, welches unverkennbar einige Lebensspuren birgt. Die schwarzen Haare, nun ja, es ist nicht mehr die Naturfarbe, vervollständigen das Bild eines Schneewittchens, das schon eine erwachsene Tochter haben könnte, aber seinen Reiz über die Jahre bewahrt hat. „Das ist sehr aufmerksam von Ihnen, haben Sie herzlichen Dank!“ Hermann-Joseph scharwenzelt um die Dame herum. Verzückt wie er ist, entgeht ihm, daß die etwas piepsige Stimme Ex-Schneewittchens so gar nicht zu ihrem ausdrucksstarken Blick passen mag. Sie nimmt zwei Münzen von ihm entgegen, löst ihren Fahrschein und lächelt ihn dankbar an. Hermann-Joseph blickt sich um. Es ist niemand hinter ihnen. „Sind Sie fremd hier?“ fragt er sie, um den Faden nicht abreißen zu lassen. „Ja, ich will nach Sachsenhausen, ins Museum für Angewandte Kunst.“ „Ach, da haben wir ja den gleichen Weg!“ Hermann-Joseph schämt sich etwas und ist gleichzeitig stolz, daß er so unbefangen lügen kann. Sie treten ab und fahren mit der U-Bahn.

Szenenwechsel!

Unsere beiden Darsteller überqueren den Römerberg Richtung Eiserner Steg. Er gibt den Cicerone und referiert mit feuerroten Ohren Daten und Fakten. Wie gerne hätte er ihr etwas Persönliches gesagt.

Die Schüchternheit Hermann-Josephs ist Ihnen jetzt hinreichend bekannt, vielleicht haben Sie sich auch schon gedacht, er sei Junggeselle. Dieses Wissen reicht indessen nicht. Zum Verständnis der nun folgenden zweiten, der großen Attacke, sollte man darüber unterrichtet sein, daß Hermann-Joseph – wir nennen ihn immer noch korrekt bei seinen beiden Vornamen und gestatten uns keine Vertraulichkeit, wir unterschlagen auch das schicke „ph“ nicht –, daß Hermann-Joseph also vor einigen Monaten seinen ganzen Mut zusammengenommen und einen Psychotherapeuten aufgesucht hat, um seiner Schüchternheit ein Ende zu bereiten. Brüten Sie nicht zu Hause vor sich hin, gehen Sie raus und nehmen Sie die Dinge in die Hand, war der Rat des Fachmanns.

Erneuter Szenenwechsel!

Auf grobem Kopfsteinpflaster nähern sie sich dem Eisernen Steg. Ex-Schneewittchen hat etwas Mühe wegen ihrer Absätze. Hermann–Joseph bietet ihr galant den Arm. Er überlegt, ob sie nicht den Fahrstuhl nehmen sollten. Dann wäre er mit ihr allein auf engem Raum. Er könnte sie küssen. Aber wenn sie schrie? Auf jeden Fall könnte er versuchen, ihre Hand zu nehmen. Am Mainufer angekommen, passiert ein Malheur. Sie bleibt mit dem linken Absatz in der Straßenbahnschiene hängen und strauchelt. Er, wacker wie der Roland vor einem norddeutschen Rathaus, hält stand, und sie kommt wieder ins Gleichgewicht. Nachdem dieses Abenteuer bestanden ist, stehen sie vor dem Eisernen Steg. Sie will die Treppe nehmen, er, voller Hinterlist, weist auf eine Horde Jugendlicher, die gerade die Stufen rechts und links herunterströmt: „Man wird Sie umrennen, Gnädigste!“ Also warten sie am Glaskasten des Aufzugs, der gerade nach oben losgefahren ist, sie lächelnd, er innerlich vor Ungeduld kochend, auf dessen gemächliche Wiederkehr. Trotz der Kälte ist seine Stirn schweißnaß. „Ich mach’s, ich probier’s“, ermutigt er sich selbst. Endlich ist der Fahrstuhl wieder unten. Sie steigen ein. Die Tür will sich gerade schließen, als sich drei Radfahrer nähern. Sie bremsen scharf und einer steckt im letzten Moment noch seinen Vorderreifen in die Schiebetür. „Nehmen Sie uns noch mit“, sagt er gutgelaunt, es ist mehr Befehl als Frage. Die drei Sportsleute, Sturzhelme aufgesetzt und angetan mit bunter Allwetterkleidung, quetschen sich, natürlich mitsamt ihren edlen Gefährten, in die Kabine. Hermann-Joseph steht jetzt zwar recht eng bei ihr, aber so hatte er sich das nicht vorgestellt. Eine Fahrradkette streift sein Hosenbein. Er stöhnt. Sie blickt ihn lächelnd an und gibt ihm mit den Augen ein Zeichen: Nicht so schlimm! Sie riecht gut. Er kennt sich nicht aus, weiß nicht, ob das ein Parfum oder sonstwas ist. Aber der Duft gefällt ihm. Ihre Nähe gefällt ihm.

Oben angekommen bahnen sie sich zunächst ihren Weg durch einen Pulk von Touristen mit rotgefrorenen Nasen, die ausgiebig mit ihren Stöckchen hantieren, um Photos von sich selbst zu machen. Zweimal wird er gebeten, wildfremde Leute abzulichten. Er tut es nur ihr zuliebe. Er ist aufgeregt, verliebt, ihm geht es schlecht und euphorisch ist er auch noch. Dem Osteuropäer, der immer hier mit seiner Ziehharmonika sitzt, immer das gleiche Stück – und dieses auch stets falsch – spielt, wirft er heute Geld in den Hut. Sonst hastet er regelmäßig vorbei und schaut auf die andere Seite, wenn der Straßenmusiker seine schadhaften Zähne bleckt und freundlich grüßt.

Sie sind schon ein gutes Stück über den Eisernen Steg gegangen, das Museum für Angewandte Kunst scheint ihnen geradezu entgegenzukommen und Hermann-Josephs Herz schrumpft und pulst schnell wie ein Mäuseherz. Ob er jetzt vorgeben soll, das Museum sei auch sein Ziel? Angewandte Kunst, was ist das eigentlich? Der Weg schmilzt, die Zeit vergeht und Hermann-Joseph ist verzweifelt. Längst hat er seine Erläuterungen als Fremdenführer aufgegeben. Sie gehen stumm nebeneinander her. Noch nicht einmal sein großes Aß hat er ausgespielt. Er kann die altgriechische Inschrift auf dem Pfeiler auch ohne Hilfe selbst lesen und übersetzen! Indes, in seiner Bangigkeit übersieht er sie und starrt nur vor sich hin.

Wertes Publikum! Entschuldigen Sie die erneute Unterbrechung, aber ich dringe in Sie, eilen Sie nicht zur Garderobe, sich Ihren Mantel zu holen. Jetzt kommt der entscheidende Wendepunkt! Wohin sich das Stück neigt, kann ich Ihnen freilich nicht verraten. Sehen Sie selbst!

Da kommt Hermann-Joseph der Rat des Psychologen in den Sinn. Also geht er, Hermann-Joseph Schnabeltasse, der lodernd in den Flammen der Liebe steht, die ihn wie ein Kugelblitz entzündet hat, ohne langes Nachdenken wie ein Mann aufs Ganze, und es fällt ihm auf einmal unerwartet leicht. Er reitet die zweite, die große Attacke: „Ich bin mir der Tatsache bewußt, daß meine Frage Sie etwas überraschen muß, aber – wollen Sie mich heiraten?“ Ex-Schneewittchen, wir wissen ihren richtigen Namen ja leider immer noch nicht, erstarrt im ersten Moment. Dann wird sie rot; Hermann-Joseph dagegen, dem jetzt erst klar wird, was er getan hat, wird blaß. Er fürchtet einen Zornesausbruch mit aus ihren Augen geschleuderten Phosphorpfeilen. Da beginnt sie zu lächeln, ja, sie lächelt verschämt, wie ein Schulmädchen, wie sie damals, vor vielen Jahren, lächelte, als Hans-Peter hinter der Turnhalle den Arm um sie gelegt und sie gefragt hatte, ob sie mit ihm gehen wollte. Sie atmet tief durch und antwortet Hermann-Joseph: „Vielleicht sollten wir mit einer Tasse Kaffee anfangen?“

Bad Homburg vor der Höhe, im November 2019

Matthias Alexander Wolf

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