Der geheime Inhalt der böhmischen Knödel

Die Aventüren des Hermann-Joseph Schnabeltasse

Es war nicht seine Absicht gewesen. Der eiskalte Regenguß im Januar hatte Schneider überrascht, er hatte keinen Schirm dabei und kaum fünfzig Meter weiter lag auf der anderen Straßenseite das Antiquariat Dr. Bömmerlein Nachf., wo Schneider guter Kunde war. Manchmal verplauderte er dort halbe Nachmittage mit dem Inhaber Gregor Trublitschek, der geschickt dafür sorgte, daß Schneider stets mit einem Stapel angestaubter Bücher nach Hause zurückkehrte. Arbogast Schneider interessierte sich für vielerlei, je älter und ausgefallener, desto besser. Er sammelte alte Bücher und gelegentlich, wenn er sie zu Preisen ergattern konnte, die im Rahmen seiner Besoldung als Oberstudienrat blieben, auch Handschriften. Dabei verfolgte er keine besondere Systematik oder ein bestimmtes Spezialgebiet.

Zuhause pflegte er von seiner Frau Irmgard schweigend, dafür mit umso beredteren Blicken äußerster Mißbilligung, empfangen zu werden. Die Strafmaßnahme durch diese Art von Liebesentzug wurde üblicherweise für den Rest des Tages vollstreckt. Erst abends im Bett, als letztes vor dem Löschen des Lichts, erfolgte die Begründung für das bereits vollstreckte Urteil, indem sie ihm, bildlich gesprochen, den Kopf wusch, weil er schon wieder einen Stapel von diesem staubigen, vergilbten Zeugs nach Hause gebracht hätte, das bestimmt voller Bazillen wäre. Außerdem wäre in der Wohnung kein Durchkommen mehr zwischen all diesen Bücherstapeln und sie hätte schließlich auch ein Anrecht auf ein behagliches Heim. Er reagierte üblicherweise, indem er den Blick aufsetzte, den er sich der Dänischen Dogge seines Nachbarn Schmidtbauer abgeschaut hatte, welcher seinem Hund keine Ungezogenheiten durchgehen ließ. Irmgards Herz wurde dann weich, sie schenkte Arbogast wieder ihre Huld, indem sie ihm einen Gutenachtkuß gewährte, und die Sache war ausgestanden. 

Trublitschek war gerade beim Einsortieren mehrerer Kisten Bücher aus einer Haushaltsauflösung, als Schneider den nach Staub riechenden Laden mit den knorrigen, uralten Holzdielenbrettern betrat. Es waren nicht nur die Regenwolken draußen, die den vorderen Ladenraum in trübes Licht setzten. Die Scheiben der Schaufenster waren zwar nicht gerade blickdicht, schafften es aber selbst an Sonnentagen nicht, den Laden ausreichend zu beleuchten. Ihr Zustand lud auch nicht unbedingt dazu ein, die im Schaufensterkasten ausgestellten antiquarischen Bücher – ein paar alte Stiche waren auch darunter – näher zu betrachten. Denn Trublitschek war starker Pfeifenraucher und die Putzhilfe seines Vorgängers hatte er bald nach der Übernahme des Geschäfts nicht mehr bezahlen können. Er schmauchte im Laden ständig vor sich hin.

Seine Stammkunden rauchten gerne mit ihm, er wußte viel und erzählte gerne, manchmal trank man auch ein Glas Rotwein. Wem das nicht paßte, der wurde eben kein Stammkunde; Trublitschek kümmerte das nicht. Er hatte in Berlin, Göttingen und Heidelberg zweiunddreißig Semester nicht eigentlich studiert. Er war indessen all die Jahre an der Universität eingeschrieben gewesen, da er günstig krankenversichert sein wollte. Deshalb ist die Wahl seiner verschiedenen Studienfächer auch nicht weiter erwähnenswert. Doch hatte er sich überall etwas von dem, was ihn wirklich interessierte, an Wissen herausgepickt, war ein kluger Kopf, sehr belesen und gebildet. Ein zielstrebiges Studium mit Prüfungen und Abschluss war ihm zuwider. Das hätte er spießig gefunden.

Trublitschek befand sich im Magazin. So nannte er den Raum, der hinter dem Laden lag und mit diesem durch eine offenstehende Doppeltür verbunden war. Dort sorgten herumstehende, aufeinander gestapelte Kisten und ein Neonlicht mit einem leichten Grünstich dafür, daß kaum je ein Kunde diesen Raum betrat.

„Tach, Schneider“, rief Trublitschek unter kurzem Aufblicken seine übliche Begrüßungsformel. „Suchen Sie was Bestimmtes?“

„Tach, Trublitschek. Nein, um ehrlich zu sein, der Regenguß draußen hat mich hereingetrieben. Ich schaue mich nur ein bißchen um.“

„Tun Sie das. Wenn Sie mich brauchen, ich habe hier im Magazin zu tun.“

Trublitschek öffnete die nächste Kiste und förderte als erstes eine ältere Ausgabe von Adalbert Stifters „Die Mappe meines Urgroßvaters“ zutage. Stifter. Den kannte er gut, hatte alles von ihm gelesen und auch einmal, als er gerade Germanistik studierte, tatsächlich eine Seminararbeit über sein Werk nicht nur angefangen, sondern sogar abgeschlossen. Das war in dem Sommersemester als er Elke beeindrucken wollte. Die Arbeit mußte noch irgendwo herumliegen. Er blätterte in dem Buch, las sich fest, versank eine Weile in Stifters Beschreibungen und nahm nichts mehr um sich herum wahr. Dann sah er auf. Unangenehmes vertrieb die idyllischen Bilder der Stifter’schen Wortgemälde. Heute war ein Brief seines Vermieters mit der Forderung einer hohen Nebenkostennachzahlung in der Post gewesen. Drago Mihaljevic wartete schon seit Wochen auf die Zahlung der Reparatur des Motorschadens seines alten VW-Busses und die Abbuchung seiner Krankenkassenbeiträge war schon wieder geplatzt. Da bemerkte er, daß Schneider sich zu gehen anschickte.

Trublitschek durchzuckte es wie damals, als er in seinem Zimmer in der Altbauwohnung vor der Montage der Deckenlampe vom Sperrmüll die falsche Sicherung herausgedreht hatte. Er war auf einmal völlig verändert. Sein grauer Haarkranz stand ab wie bei der Karikatur eines Elektroschocks.

„Sie, Schneider“, rief er. „Moment mal! Ich hätte da was für Sie. Sehr speziell, habe ich gerade reinbekommen. Das biete ich nur meinen besten Kunden an. Sie sind der erste.“

Schneider wischte sich mit dem Mantelärmel an der Glasscheibe der Ladentüre ein Guckloch frei und sah, es regnete noch kräftig.

„Worum geht es denn?“ fragte er und drehte sich in Richtung Magazin. Trublitschek drückte mit dem Daumen an dem Tabak in seiner Pfeife herum und zündete sie neu an.

„Was ich Ihnen jetzt sage, muß auf jeden Fall unter uns bleiben“, sagte er in vertraulichem Ton, indem er auf Schneider zuging. „Es ist, das kann man schon so sagen, eine Sensation.“

„Ja, was denn?“ Schneider streckte den Kopf nach vorne, als ob er dadurch die halblaut gesprochenen Worte Trublitscheks besser verstehen könnte und nahm dessen verschwörerisches Gebaren an, indem auch er nur noch halblaut sprach.

„Aber absolutes Stillschweigen! Ich habe hier keinen Panzerschrank und das Manuskript ist noch nicht versichert.“

„Ach Gott! So wertvoll? Ob ich mir das überhaupt leisten kann?“

„Der wahre Sammler muß auch Opfer bringen. Aber wenn Sie kein Interesse haben. Ich habe noch andere, und zwar sehr zahlungskräftige Kunden, wie Sie wissen. Ich wollte Ihnen nur den ersten Zugriff lassen.“

„Jetzt spannen Sie mich nicht länger auf die Folter und sagen Sie endlich, worum es geht!“

„Adalbert Stifter. Sagt Ihnen das etwas?“

„Also bitte, was soll das, wollen Sie mich veräppeln? Natürlich kenne ich Stifter!“

„Haben Sie sich auch etwas mit seiner Biographie beschäftigt, können Sie mit dem Namen Fanny Greipl etwas anfangen?“

„War das nicht eine unglückliche Jugendliebe oder etwas in der Art?“

„So ist es. Und Stifter hat über diese Jugendliebe einen Roman geschrieben, der nie veröffentlicht wurde. Das Manuskript ist jetzt erst aufgetaucht und stellt als solches schon eine Sensation dar. Dazu kommt aber etwas für die Literatur des 19. Jahrhunderts völlig Außergewöhnliches. Stifter schildert sehr freizügig allerhand Pikantes, unter anderem, wie Fanny in einem Hühnerstall an ihn ihre Unschuld verlor.“

Schneider mußte lachen. „Was Sie nicht sagen! Ausgerechnet in einem Hühnerstall! Das stelle ich mir sehr unappetitlich vor. Kann ich sehen?“

„O nein! Das ist alles gut versteckt und nicht hier. Zuerst muß ich wissen, ob Sie überhaupt Interesse haben.“

„Selbstverständlich habe ich Interesse. Woher haben Sie das Manuskript, und was soll es kosten?“

„Zur Provenienz kann ich derzeit keine Angaben machen. Ich bin zu höchster Vertraulichkeit verpflichtet. Der Einlieferer fordert einhunderttausend Euro. Dazu kommen fünfzehn vom Hundert Courtage für mich.“

„Hundertfünfzehntausend Euro? Unmöglich, da muß ich passen.“

„Sagen Sie das nicht. Das Angebot ist sehr günstig, weil es dem Verkäufer etwas eilt. Er muß“, Trublitschek zögerte etwas und schien nach Worten zu suchen. „Er muß dringend einen hohen Betrag an Erbschaftsteuer bezahlen. Er hat – soviel kann ich Ihnen verraten – eine bedeutende Privatsammlung geerbt. Wenn mit der Zeit erst einmal die großen Museen oder schwerreiche ausländische Privatsammler aufmerksam geworden sind, können Sie für eine solche Rarität bei einem Weiterverkauf ein Vielfaches erhalten. Überlegen Sie es sich in Ruhe. Sie haben eine Woche Zeit, bevor ich mit dem Manuskript auf den Markt gehe.“

Beschwingt ging Schneider nach Hause. Den Regen nahm er nicht mehr wahr. Eigentlich hatte er noch Klassenarbeiten korrigieren wollen, aber dafür war er zu aufgewühlt. Die zehnte Klasse mußte eben noch ein paar Tage warten.

Zu Hause angekommen war es nicht möglich, seiner Frau Irmgard den Besuch im Antiquariat zu verheimlichen. Sie sah sein strahlendes Gesicht und wußte, da stimmte etwas nicht. Sofort wurde er zum Rapport aufgefordert. Er ermannte sich und legte alle verfügbare Kraft in seine Stimme, als er Irmgard von dem außerordentlichen Angebot, der einmaligen Chance berichtete.

„Verstehe doch, das ist eine Sensation. Verlage werden uns das Manuskript aus den Händen reißen. Das Manuskript ist wie ein Huhn, das goldene Eier legt. Wir verkaufen die Eier, indem wir Verlagen den Text zum Druck zur Verfügung stellen, und behalten das Huhn, das wertvolle Originalmanuskript, zurück. Ist der Text erst einmal gedruckt und als Roman verbreitet, steigt der Wert unseres Manuskripts sogar noch. Jeder, der sich für Literatur interessiert, wird es haben wollen. Du weißt, ich kenne den Professor Schubert recht gut. Er wird mir das sicher bestätigen, wenn ich Ihn vertraulich frage. Sollten wir je Geld brauchen, können wir es jederzeit mit einem dicken Gewinn verkaufen.“

„Einhundertfünfzehntausend Euro! Du willst Vabanque mit unseren sämtlichen Ersparnissen spielen und einen Packen altes Papier kaufen, das du noch nicht einmal gesehen hast? Bist du verrückt? Es mag ja sein, daß ich nicht viel von Gelddingen verstehe, aber du, Herr Oberstudienrat, der alles weiß, bist auch kein Fachmann. Ich jedenfalls weiß zwei Dinge ganz gewiß: Erstens: Schon mein Großvater hat immer gesagt, man solle nicht alle Eier in einen Korb legen. Nur ein Verrückter würde alle seine Ersparnisse für eine einzige Sache opfern. Zweitens – und das sagt einem der gesunde Menschenverstand, falls man einen solchen besitzt – wo hoher Gewinn winkt, da ist auch das Risiko hoch. Davon bringst du mich nicht ab, und wenn du mir fünf Literaturprofessoren als Sachverständige präsentierst. Wenn irgend etwas schief geht, sind unsere sämtlichen Ersparnisse dahin. Unterstehe dich und kaufe dieses Manuskript!“

Während sich Schneider anschickte, den Dänische-Doggenblick aufzusetzen, war Trublitschek in seinem Laden sehr beschwingt. Vergnügt wie Rumpelstilzchen hüpfte er durch die Räume, rieb sich die Hände und war stolz auf seinen spontanen Einfall, den er so geistesgegenwärtig zu einer Geschichte ausgesponnen hatte. Was für eine großartige Idee dies doch war. Jetzt war er einmal dran, auf der Sonnenseite zu stehen. Der Gedanke, es sei sein gutes Recht, endlich auch einmal im Leben Erfolg und Geld zur Verfügung zu haben, erschien ihm so natürlich, daß nicht die geringsten Skrupel in ihm hochkamen. Im übrigen war er sich sicher, die ganze Angelegenheit würde vertraulich bleiben, denn Schneider war ängstlich. Er würde seinen unter finanziellen Schmerzen erworbenen Schatz hüten, sich im Stillen an ihm erfreuen, nichts herumerzählen und schon gar nicht weiterverkaufen. Für ihn, Trublitschek, bestand überhaupt keine Gefahr.

Außerdem könnte er sich mit dem Geld woanders niederlassen, wo das Wetter besser wäre. Nichts hielt ihn in Dresden und an seiner kümmerlichen Antiquariatsexistenz. Er hatte damals für die Übernahme des Ladens mit Firma und Ware zwanzigtausend Euro bezahlt. Wenn er die Zahlen seiner Buchhaltung etwas frisierte, könnte er vielleicht das Doppelte bekommen. Das wären dann zusammen mit dem Manuskript und seiner Courtage hundertfünfundfünfzigtausend Euro. Vielleicht könnte er Schneider auch noch etwas hochkitzeln.

In Trublitschek kam Stolz auf. Er hatte gar nicht gewußt, was für ein gerissener Geschäftsmann er sein konnte. Jetzt war einmal er an der Reihe, als Gewinner auf das Siegertreppchen zu steigen. Aber er mußte die Suppe am Kochen halten und Schneider bald zumindest ein paar Blätter des Manuskripts zeigen.

Zunächst begab er sich auf die Suche nach der Biographie Stifters. Dies stellte sich für Trublitschek als eine monumentale Aufgabe dar, von der er wußte, sie würde ihn mindestens einen ganzen Tag lang beschäftigen, und die er eine Woche vor sich herschob. Bei der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen kann man sich heutzutage wahrscheinlich von einem Metalldetektor unterstützen lassen. Ganz anders verhält sich dies bei der Suche nach einem bestimmten Buch in einem Antiquariat. Zwar gab es bei ihm im Prinzip eine Systematik, nach der die Bücher in die Regale eingestellt worden waren. Nachlässige Kunden aber stellten zur Ansicht herausgenommene Bücher auf Geratewohl irgendwo in das Regal zurück. Dies war jedenfalls Trublitscheks Meinung zu dem bestehenden Durcheinander.

Tatsächlich war aber, was Trublitschek bei einer ein klein wenig selbstkritischeren Einstellung auch durchaus hätte auffallen können, seine verkümmerte Entschlußkraft der Grund für das Chaos. Das Einsortieren eines jeden Buches, selbst in ein so bruchstückhaftes Ordnungssystem wie das seinige, setzte zum einen stets eine zumindest minimale Befassung mit dem Inhalt des Buches voraus. Soweit kam er meistens, denn neugierig war er durchaus. Anschließend mußte dann auch eine Entscheidung getroffen werden, wo das Buch einzuordnen sei. Hier lag der Haken. Bequemlichkeit und manchmal auch ein leicht vom Rotwein benebelter Kopf verhinderten häufig genug eine überlegte Entscheidung und veranlaßten Trublitschek dazu, die Bände einfach da hineinzustopfen, wo er gerade Platz fand.

Die Suchmaßnahme nach der Biographie wurde überdies entscheidend dadurch erschwert, daß in Laden und Magazin nicht nur die Regale an den Wänden bis an die hohen Decken mit Büchern ohne jedes System vollgestopft waren, sondern auch der Boden mit Kisten und Kartons voller Bücher zugestellt war. Selbstredend befanden sich auch noch zahlreiche Bücher in Trublitscheks privatem Allzweckraum (Wohnküche mit einer Chaiselongue aus den fünfziger Jahren, auf der er manchmal schlief, wenn er es nicht mehr ins Bett schaffte) und sogar in seiner winzigen Schlafstube, die eigentlich durch das Bett, einen Nachttisch und einen kleinen Kleiderschrank bereits völlig zugestellt war. Er suchte fast zwei volle Tage, bis er die Chaiselongue hervorrückte, unter heftigem Niesen endlich die Lebensbeschreibung Stifters unter einer daumendicken Staubschicht entdeckte und bei dieser Gelegenheit gleich ein Mäusenest aushob. Jetzt waren ihm endlich auch der unangenehme Geruch in dem Raum und die zahlreichen merkwürdigen Körner auf Boden, Tisch und Herd erklärlich, die er bislang für Leinsamen gehalten hatte, obwohl er doch überhaupt keinen Leinsamen verzehrte. Das Buch war zum Glück fast unversehrt, der Lederrücken nur ein ganz klein wenig angenagt und der Fleck von Mäuseurin auf dem Buchdeckel kaum zu sehen.

Er machte sich sofort an Lektüre. Die Geschichte der unglücklichen Liebe Stifters zu Fanny Greipl nahm in dem Text gerade so viel Platz ein, daß er sich ein klares Bild verschaffen konnte, ließ ihm aber noch genug Freiraum für seine Phantasie und den zu schreibenden Roman. Voller Schwung überlegte er auch, nach Friedberg/Frymburk und Oberplan/Horní Planá in Südböhmen zu reisen, die Heimatorte von Fanny Greipl und Adalbert Stifter, um etwas Lokalkolorit zu erschnuppern, damit der Roman authentischer würde. Sein alter VW-Bus war schließlich gerade repariert, auch wenn er die Rechnung noch nicht bezahlt hatte. Allerdings hatte er keine Winterreifen und er wußte nicht, ob es klug wäre, mit Sommerreifen im winterlichen Böhmerwald umherzufahren. So schob er dieses Vorhaben auf.

Dann recherchierte er mit seinem Rechner, der auf einem ausrangierten Küchentisch mitten im Magazin stand, im Internet, was er an zusätzlichen Informationen zu Stifters Leben finden konnte. Das war eine ganze Menge. Er druckte vieles davon aus und war der Auffassung, das müßte zunächst einmal genügen. Er würde Schneider zu Beginn mit einigen wenigen Blättern des Manuskripts abspeisen, um ihn bei Laune zu halten, bis dieser die Finanzierung des Ankaufs auf die Beine gestellt hätte.

Irmgards Verbot, das Manuskript zu kaufen, hatte Arbogast Schneider drei Tage lang sehr niedergedrückt. Er hatte niemanden, mit dem er darüber reden konnte. Sein guter Freund Manfred war Deutschlehrer, als Oberstudiendirektor zwei Gehaltsklassen über ihm und finanziell viel besser gestellt als er. Nach dem Tod seiner Mutter hatte er Arbogast erzählt, ein Vermögen im „niedrigen siebenstelligen Bereich“ geerbt zu haben. Zudem war er kinderlos. Bei aller Freundschaft, mit ihm konnte er nicht über diese Sache sprechen. Das wäre zu gefährlich. Manfred könnte ihm zuvorkommen und selbst kaufen. Denn er war selbst an Literatur und alten Handschriften sehr interessiert und Arbogast hatte ihm deshalb auch seinen „Geheimtip“ Antiquariat Bömmerlein Nachf., wo zwar alles sehr chaotisch, die Preise dafür erstaunlich niedrig waren, nie verraten. Manche Gelegenheitskäufe bei Trublitschek waren wirklich außergewöhnlich günstig. Nein, mit Manfred konnte er nicht sprechen.

Fast eine Woche nach seinem ersten Besuch bei Trublitschek hielt er es nicht mehr aus und sagte Irmgard, er wollte einen Spaziergang unternehmen. Da dies der erste freundliche Tag seit längerem war, wollte sie mitkommen. Er erklärte ihr aber, eigentlich hätte er keinen richtigen Spaziergang vor, sondern wollte beim Kollegen Kretzschmar vorbeischauen, mit dem er etwas wegen zweier verhaltensauffälliger Schüler zu besprechen hätte, und den Weg dahin zu Fuß zurücklegen, um sich die notwendige Bewegung zu verschaffen.

Kurz darauf betrat er das Antiquariat.

Auf das „Tach, Trublitschek“, kam das vertraute „Tach, Schneider“, wieder von hinten.

Auch diesmal kam Trublitschek nicht aus dem Magazin heraus, aber nicht, weil er beschäftigt gewesen wäre. Nein, Trublitschek fühlte sich jetzt ganz als gerissenen Hund von Geschäftsmann und fand, er müßte Schneider ein wenig zappeln lassen.

Schneider trat an die Verbindungstür: „Trublitschek, könnte ich Sie kurz sprechen?“

Trublitschek, der mit zusammengezogenen Augenbrauen am Rechner saß, den Kopf schüttelte und Unverständliches vor sich hin murmelte, atmete wegen der offensichtlich unwillkommenen Störung tief ein, erhob sich langsam und ging auf Schneider zu und brummte: „Was gibt es denn?“

„Ich wollte nochmal mit Ihnen reden, wegen des Manuskripts von Stifter, meine ich.“

„Und?“

„Meinen Sie, es wäre möglich, daß der Verkäufer mir etwas entgegenkommt? Preislich meine ich. Und Sie auch mit Ihrer Provision. Ich bin ja schließlich guter Kunde bei Ihnen.“

„Lieber Schneider, Sie kaufen von Zeit zu Zeit ein altes Buch für acht Euro, das mich sechs Euro gekostet hat. Wenn es hoch kommt, geben Sie fünfundzwanzig Euro aus, von denen dann zehn Euro bei mir hängen bleiben. Ich muß auch meine Ladenmiete zahlen und die ganzen Kosten und Steuern decken. Außerdem muß ich auch noch leben. Das verstehen Sie doch. Bei mir kommt nicht jeden Monat automatisch eine schöne Überweisung aufs Konto. Und was den eigentlichen Kaufpreis angeht, da kann ich Ihnen leider überhaupt keine Hoffnungen machen. Ich habe in dieser Sache keinen Alleinauftrag und jetzt mitbekommen, der Erbe hat sich auch schon um die Vermarktung gekümmert, steht wohl auch in Kontakt mit ausländischen Kunstinvestoren. Der Preis wird wohl eher noch steigen. Also, wenn sie kein Interesse mehr haben, müssen Sie mir dies rechtzeitig sagen.“

Schneider wurde blaß.

„Natürlich bin ich noch interessiert, sehr sogar. Ich muß nur die Finanzierung sicherstellen. Übermorgen habe ich einen Termin bei der Bank. Dann geht alles klar. Könnte ich jetzt aber das Manuskript wenigstens einmal sehen oder vielleicht sogar ein paar Kopien bekommen, die ich bei der Bank vorlegen kann? Das würde die Finanzierung erleichtern.“

„Ich habe Ihnen doch gesagt, ich habe das Manuskript nicht hier. Klären Sie die Finanzierung, dann spreche ich noch einmal mit dem Verkäufer und lege ein gutes Wort für Sie ein. Danach sehen wir weiter.“

„Bitte, verkaufen Sie um Himmels willen nicht an jemanden anderen!“

„Ich werde sehen, was sich machen läßt.“

Keine Spur erleichtert, vielmehr besorgter als vorher, kehrte Schneider nach Hause zurück. Wenn ich heute schon ein unangenehmes Gespräch hinter mich gebracht habe, dann kann ich das zweite auch gleich führen, dachte er sich und setzte sich zu seiner Frau, die unzählige Puzzleteile auf einem großen Tisch verteilt hatte und eine Gartenlandschaft zusammenzusetzen versuchte.

„Ich muß mit dir sprechen, Irmgard.“

„Was ist denn los? Du wirkst so besorgt.“

„Es geht nochmal um dieses Manuskript von Adalbert Stifter. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel mir daran liegt.“

„Arbogast, die Sache ist geklärt. Das wäre völlig unvernünftig. Wir setzen nicht unseren Notgroschen fürs Alter aufs Spiel. Ein Ankauf kommt überhaupt nicht in Frage.“

„Ich habe aber schon unsere Festgelder gekündigt und das Depot aufgelöst. Außerdem muß ich damit rechnen, daß der Preis noch steigt, weil das Manuskript so unglaublich wertvoll ist. Deswegen benötigen wir einen Kredit, und dafür muß ich eine Grundschuld auf das Haus aufnehmen. Da müßtest du dann bitte auch mit unterschreiben. Habe ich erst einmal gekauft, vergeben wir die Druckrechte und der Wert des Manuskripts wird noch weiter steigen.“

„Bist du denn völlig übergeschnappt!“ Irmgard Schneider schrie, wie sie ihren Mann noch nie in ihrer langjährigen Ehe angeschrien hatte. „Du gehst jetzt sofort los und machst das Ganze rückgängig. Nur über meine Leiche! Nein, nicht über meine Leiche, sondern um den Preis unserer sofortigen Trennung und Scheidung. Was glaubst du denn, wer du bist? Du kannst nicht gegen meinen ausdrücklichen Willen über unser gemeinsames Vermögen verfügen. Du bringt das alles sofort in Ordnung, dann will ich dir verzeihen. Aber tue so etwas nie mehr wieder! Hörst du? Nie mehr wieder!“

Irmgard Schneider arbeitete halbtags im sächsischen Kultusministerium. Da es um Literatur ging, war sie der Meinung, das Kultusministerium wäre zuständig und erstattete dort gleich am nächsten Tag eine anonyme Anzeige gegen den Herrn Trublitschek vom Antiquariat Bömmerlein Nachf. Dieser böte ein sehr wertvolles Manuskript des Schriftstellers Adalbert Stifter an, das bestimmt gestohlen wäre.