Hochverehrtes Publikum!

Die Liebesgeschichte, welche ich Ihnen jetzt darstellen werde, ist unverrückbar wahr, so wahr, wie die Fixsterne am Himmel befestigt sind, und so voller wunderlicher Geschehnisse, daß mancher glauben mag, sie sei in einer milden, klaren Sommernacht unter funkelndem Sternenhimmel nach dem Genusse etlicher Gläser frischen Weines beim Gesange der Zikaden, umleuchtet von lautlos huschenden Glühwürmchen, ersonnen.

Nichts davon! „Was ist Wahrheit?“ fragte Pilatus schon sich und die Juden. Die Frage ist bis heute ungeklärt. Wir wollen gleichwohl das Beackern solch steiniger Felder stärkeren Geistern überlassen.

Genug der Vorrede! Bühne frei, wir beginnen!

Als Bühnenbild dient uns eine Frankfurter U-Bahnstation. Einziges Requisit: ein Fahrkartenautomat. Jawohl, einer dieser grün-bläulichen Blechkästen, deren Farbe, für die ich keinen Begriff weiß, so gar nichts Romantisches hat.

Hermann-Joseph – bitte ihn immer mit beiden Vornamen ansprechen und im Schriftverkehr korrekt auf das schicke „ph“ am Josephsende achten, bitte sehr – Hermann-Joseph also steht eines grauen, kühlen Spätherbsttages in der U-Bahnstation am Fahrkartenautomaten. Vor ihm ist eine Dame, deren rückwärtige Ansicht durchaus das Interesse Hermann-Josephs (bitte auch hier in der gebeugten Form des zweiten Falles das „ph“ nicht vergessen!) erweckt. Er langweilt sich daher auch nicht, als die Dame etwas umständlich und mühsam offensichtlich ihr letztes Kleingeld zusammenklaubt und in den Schlitz wirft. Es reicht nicht, sie muß den Vorgang abbrechen. Nach einigem Rattern und Klappern findet sie ihre Münzen im Ausgabefach wieder.

Was dies mit einer Liebesgeschichte zu tun habe, fragen Sie? Sehr viel, Sie werden es gleich sehen.

Nun versucht die Dame ihr Billett mit einem Geldschein zu bezahlen. Der Automat gibt ihr die Banknote dreimal zurück und behält den begehrten Fahrschein weiterhin für sich. Da schlägt Hermann-Josephs Stunde! Er hatte sich in der Zwischenzeit weiter vorgewagt und hat jetzt einen Blick auf das Profil der Dame erhascht. Donnerwetter, was für ein Profil! Das ihres Gesichts selbstredend, Hermann-Joseph ist ein feiner Herr. Da jene Konturen aber gehalten haben, was die rückwärtige Ansicht versprochen hatte, reitet er, der eigentlich sehr schüchtern ist – hierauf komme ich gleich noch zu sprechen –, eine Attacke, die ihm nicht allzu schwer fällt, da er als feiner Herr äußerst höflich und zuvorkommend ist: „Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, gnädige Frau, Schnabeltasse mein Name, Hermann-Joseph Schnabeltasse. Ja, ich weiß, mein Name ist etwas ungewöhnlich. Ich sehe Sie in Verlegenheit. Dürfte ich Ihnen vielleicht mit etwas Kleingeld aushelfen?“ Die Dame wendet sich ihm zu. Oh, diese Augen! Zwei übergroße Mandeln mit dunklen Pupillen richten sich auf ihn. Er fühlt sich getroffen, entflammt, versengt.

Liebes Publikum, Sie werden festgestellt habe, daß die Jugend unserer beiden Darsteller schon etwas fortgeschritten ist, sonst hätte man sich elektronischer Zahlungsmittel bedient. Verzeihen Sie die Unterbrechung, aber das gehört zum Thema.

Ihre ausdrucksvollen Augen voller Strahlkraft sitzen in einem hübschen, sehr bleichen Angesicht, welches unverkennbar einige Lebensspuren birgt. Die schwarzen Haare, nun ja, es ist nicht mehr die Naturfarbe, vervollständigen das Bild eines Schneewittchens, das schon eine erwachsene Tochter haben könnte, aber seinen Reiz über die Jahre bewahrt hat. „Das ist sehr aufmerksam von Ihnen, haben Sie herzlichen Dank!“ Hermann-Joseph scharwenzelt um die Dame herum. Verzückt wie er ist, entgeht ihm, daß die etwas piepsige Stimme Ex-Schneewittchens so gar nicht zu ihrem ausdrucksstarken Blick passen mag. Sie nimmt zwei Münzen von ihm entgegen, löst ihren Fahrschein und lächelt ihn dankbar an. Hermann-Joseph blickt sich um. Es ist niemand hinter ihnen. „Sind Sie fremd hier?“ fragt er sie, um den Faden nicht abreißen zu lassen. „Ja, ich will nach Sachsenhausen, ins Museum für Angewandte Kunst.“ „Ach, da haben wir ja den gleichen Weg!“ Hermann-Joseph schämt sich etwas und ist gleichzeitig stolz, daß er so unbefangen lügen kann. Sie treten ab und fahren mit der U-Bahn.

Szenenwechsel!

Unsere beiden Darsteller überqueren den Römerberg Richtung Eiserner Steg. Er gibt den Cicerone und referiert mit feuerroten Ohren Daten und Fakten. Wie gerne hätte er ihr etwas Persönliches gesagt.

Die Schüchternheit Hermann-Josephs ist Ihnen jetzt hinreichend bekannt, vielleicht haben Sie sich auch schon gedacht, er sei Junggeselle. Dieses Wissen reicht indessen nicht. Zum Verständnis der nun folgenden zweiten, der großen Attacke, sollte man darüber unterrichtet sein, daß Hermann-Joseph – wir nennen ihn immer noch korrekt bei seinen beiden Vornamen und gestatten uns keine Vertraulichkeit, wir unterschlagen auch das schicke „ph“ nicht –, daß Hermann-Joseph also vor einigen Monaten seinen ganzen Mut zusammengenommen und einen Psychotherapeuten aufgesucht hat, um seiner Schüchternheit ein Ende zu bereiten. Brüten Sie nicht zu Hause vor sich hin, gehen Sie raus und nehmen Sie die Dinge in die Hand, war der Rat des Fachmanns.

Erneuter Szenenwechsel!

Auf grobem Kopfsteinpflaster nähern sie sich dem Eisernen Steg. Ex-Schneewittchen hat etwas Mühe wegen ihrer Absätze. Hermann–Joseph bietet ihr galant den Arm. Er überlegt, ob sie nicht den Fahrstuhl nehmen sollten. Dann wäre er mit ihr allein auf engem Raum. Er könnte sie küssen. Aber wenn sie schrie? Auf jeden Fall könnte er versuchen, ihre Hand zu nehmen. Am Mainufer angekommen, passiert ein Malheur. Sie bleibt mit dem linken Absatz in der Straßenbahnschiene hängen und strauchelt. Er, wacker wie der Roland vor einem norddeutschen Rathaus, hält stand, und sie kommt wieder ins Gleichgewicht. Nachdem dieses Abenteuer bestanden ist, stehen sie vor dem Eisernen Steg. Sie will die Treppe nehmen, er, voller Hinterlist, weist auf eine Horde Jugendlicher, die gerade die Stufen rechts und links herunterströmt: „Man wird Sie umrennen, Gnädigste!“ Also warten sie am Glaskasten des Aufzugs, der gerade nach oben losgefahren ist, sie lächelnd, er innerlich vor Ungeduld kochend, auf dessen gemächliche Wiederkehr. Trotz der Kälte ist seine Stirn schweißnaß. „Ich mach’s, ich probier’s“, ermutigt er sich selbst. Endlich ist der Fahrstuhl wieder unten. Sie steigen ein. Die Tür will sich gerade schließen, als sich drei Radfahrer nähern. Sie bremsen scharf und einer steckt im letzten Moment noch seinen Vorderreifen in die Schiebetür. „Nehmen Sie uns noch mit“, sagt er gutgelaunt, es ist mehr Befehl als Frage. Die drei Sportsleute, Sturzhelme aufgesetzt und angetan mit bunter Allwetterkleidung, quetschen sich, natürlich mitsamt ihren edlen Gefährten, in die Kabine. Hermann-Joseph steht jetzt zwar recht eng bei ihr, aber so hatte er sich das nicht vorgestellt. Eine Fahrradkette streift sein Hosenbein. Er stöhnt. Sie blickt ihn lächelnd an und gibt ihm mit den Augen ein Zeichen: Nicht so schlimm! Sie riecht gut. Er kennt sich nicht aus, weiß nicht, ob das ein Parfum oder sonstwas ist. Aber der Duft gefällt ihm. Ihre Nähe gefällt ihm.

Oben angekommen bahnen sie sich zunächst ihren Weg durch einen Pulk von Touristen mit rotgefrorenen Nasen, die ausgiebig mit ihren Stöckchen hantieren, um Photos von sich selbst zu machen. Zweimal wird er gebeten, wildfremde Leute abzulichten. Er tut es nur ihr zuliebe. Er ist aufgeregt, verliebt, ihm geht es schlecht und euphorisch ist er auch noch. Dem Osteuropäer, der immer hier mit seiner Ziehharmonika sitzt, immer das gleiche Stück – und dieses auch stets falsch – spielt, wirft er heute Geld in den Hut. Sonst hastet er regelmäßig vorbei und schaut auf die andere Seite, wenn der Straßenmusiker seine schadhaften Zähne bleckt und freundlich grüßt.

Sie sind schon ein gutes Stück über den Eisernen Steg gegangen, das Museum für Angewandte Kunst scheint ihnen geradezu entgegenzukommen und Hermann-Josephs Herz schrumpft und pulst schnell wie ein Mäuseherz. Ob er jetzt vorgeben soll, das Museum sei auch sein Ziel? Angewandte Kunst, was ist das eigentlich? Der Weg schmilzt, die Zeit vergeht und Hermann-Joseph ist verzweifelt. Längst hat er seine Erläuterungen als Fremdenführer aufgegeben. Sie gehen stumm nebeneinander her. Noch nicht einmal sein großes Aß hat er ausgespielt. Er kann die altgriechische Inschrift auf dem Pfeiler auch ohne Hilfe selbst lesen und übersetzen! Indes, in seiner Bangigkeit übersieht er sie und starrt nur vor sich hin.

Wertes Publikum! Entschuldigen Sie die erneute Unterbrechung, aber ich dringe in Sie, eilen Sie nicht zur Garderobe, sich Ihren Mantel zu holen. Jetzt kommt der entscheidende Wendepunkt! Wohin sich das Stück neigt, kann ich Ihnen freilich nicht verraten. Sehen Sie selbst!

Da kommt Hermann-Joseph der Rat des Psychologen in den Sinn. Also geht er, Hermann-Joseph Schnabeltasse, der lodernd in den Flammen der Liebe steht, die ihn wie ein Kugelblitz entzündet hat, ohne langes Nachdenken wie ein Mann aufs Ganze, und es fällt ihm auf einmal unerwartet leicht. Er reitet die zweite, die große Attacke: „Ich bin mir der Tatsache bewußt, daß meine Frage Sie etwas überraschen muß, aber – wollen Sie mich heiraten?“ Ex-Schneewittchen, wir wissen ihren richtigen Namen ja leider immer noch nicht, erstarrt im ersten Moment. Dann wird sie rot; Hermann-Joseph dagegen, dem jetzt erst klar wird, was er getan hat, wird blaß. Er fürchtet einen Zornesausbruch mit aus ihren Augen geschleuderten Phosphorpfeilen. Da beginnt sie zu lächeln, ja, sie lächelt verschämt, wie ein Schulmädchen, wie sie damals, vor vielen Jahren, lächelte, als Hans-Peter hinter der Turnhalle den Arm um sie gelegt und sie gefragt hatte, ob sie mit ihm gehen wollte. Sie atmet tief durch und antwortet Hermann-Joseph: „Vielleicht sollten wir mit einer Tasse Kaffee anfangen?“

Bad Homburg vor der Höhe, im November 2019

Matthias Alexander Wolf