Neue Crème
Es gibt Stoffe, die für eine literarische Verwertung nicht infrage kommen. Denn die Wirklichkeit ist manchmal so unglaubwürdig, daß der Leser über die übertriebene Phantasie des Schreibers nur den Kopf schüttelt.
Ich gebe es zu: Ich habe es mit dieser Anekdote einmal literarisch probiert. Es ist nichts geworden und daher kommt jetzt die wahre Geschichte bei den „Beobachtungen“:
Frankfurt am Main, Innenstadt, Liebfrauenberg
Eine elegante Dame spricht mich an und fragt mich, wo die „Neue Crème“ sei. Ich stutze etwas, dann weise ich ihr die Straße „Neue Kräme“, die gerade vor ihr verläuft. Die Dame dankt höflich und betritt in der Neue Kräme eine Parfümerie.
8. September 2024
Der lange Abschied des Sie
Teil II
In Teil I haben wir es festgestellt: Das Sie ist auf dem Rückzug. Die Frage liegt nahe: Wozu braucht man es überhaupt? Wie kommt man dazu, einzelne so anzusprechen, als wären sie eine Mehrzahl von Personen, eben „sie“.
In ganz alter Zeit gab es schließlich auch kein Sie. Weder Germanen noch die Römer des klassischen Altertums kannten eine andere Form als das Du, um eine einzelne Person unmittelbar anzusprechen. Das galt für römische Konsuln, wie für germanische Herzöge. Für unsere Sprache änderte sich das erst im frühen Mittelalter.
Das Ihr entstand und diente dazu, Standesunterschiede zu bezeichnen. Es hat sich lange gehalten, war im 19. Jahrhundert auf dem Lande noch weit verbreitet; es ist inzwischen als Anrede einer einzelnen Person fast gänzlich ausgestorben. Gehalten hat es sich aber, am Rande bemerkt, nicht nur in seiner ursprünglichen Verwendung als Anrede für mehrere Personen, die man einzeln jeweils duzen würde. Mit dem Ihr, das man als weniger formell gegenüber dem Sie empfindet, kann man sich auch an mehrere Personen wenden, die man einzeln per Sie anspräche, gegenüber denen als Gruppe man aber doch eine etwas größere Vertrautheit ausdrücken will.
Das Sie als Anrede in der 3. Person Plural kam erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts auf. Es blieb zunächst auf den Adel beschränkt und verdrängte später auch beim Bürgertum das Ihr. Ungefähr zur gleichen Zeit war auch das despektierliche Sie und Er in der 3. Person Singular aufgekommen. („Zeige er mir den Weg“). Das Sie in der Mehrzahl war die Ansprache innerhalb der Adelsschicht und von den unteren gegenüber den höheren Ständen. Mit dem Er und Sie in der Einzahl wandte man sich an Untergebene und sonstige Niedriggestellte. Diese ihrerseits, waren gehalten das Sie oder Ihr zu verwenden.
Im Barock wucherten die Anredeformen wie Lianen im Urwald („Wollen Euer Liebden Dero Nachtstuhl benutzen?“), Reste hiervon gab es noch bis ins 20. Jahrhundert („Wollen gnädige Frau bitte nähertreten?“), in Teil III dieser kleinen Reihe wird uns diese Form im Schwedischen noch einmal begegnen.
Die Anrede ist eine Ausprägung der Art und Weise, wie wir miteinander umgehen. In einer Stammesgesellschaft gab und gibt es sicher auch Rangunterschiede, die sich auf die eine oder andere Weise akzentuieren. Überschaubarkeit der Zahl und das Gefühl, zum gleichen Stamm zu gehören, also aus dem gleichen Holz geschnitzt zu sein, verringern das Bedürfnis, Unterschiede in Sprache auszudrücken.
Ganz anders lag der Fall, bei Königen, die dem unerschütterlichen Glauben anhingen, sie hätten ihre Stellung und Macht einzig und allein – wenn überhaupt – der Gnade Gottes und sonst niemandem zu verdanken. Solch inbrünstig verfochtene Gewißheiten ergriffen dann später selbst Grafen der unbedeutendsten Duodezherrschaften, was bereits zu den Zeiten, als es diese Herrschaften noch gab, unabhängige Geister zum Spott ermunterte.
Auch die bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert scheint dieses Bedürfnis nach gesellschaftlicher Abgrenzung gehabt zu haben. Der Bürgerstolz entwickelte sich. In jeder Hinsicht wollte man zeigen, wer man war und daß man es zu etwas gebracht hatte. In einer Mischung aus Bewunderung und Herablassung imitierte man den Adel und damit auch dessen Umgangsformen. Die Verwendung des Sie breitete sich mehr und mehr aus. Dagegen stand das Du breiter Schichten des Volkes auf dem Land und innerhalb der neu aufgekommenen Arbeiterklasse.
Die Verwendung von Du und Sie ist durch gesellschaftliche Konventionen geregelt. Mit dem Erwerb unserer Muttersprache haben wir bisher gelernt, es sei höflicher, jemanden im Plural statt im Singular anzusprechen. Das Du sei vertraulicher, persönlicher, sagt man. Wirklich? Will man vertraulich-persönlich von seinem Chef per Du einen Rüffel bekommen? Kann man nicht auch mit einem guten alten Bekannten per Sie vertraulich plaudern?
In einer demokratisch verfaßten Gesellschaft sind von Rechts wegen alle Bürger gleich. Gesellschaftlich gesehen gibt es aber durchaus Unterschiede. Seit Jahrhunderten schon gibt es Anstrengungen, diese zu überwinden.
Das Sie sollte eigentlich damit nichts zu tun haben, könnte man meinen. Wenn alle Erwachsenen, die nicht miteinander verwandt oder eng befreundet sind, sich siezen, dann werde doch alle gleichbehandelt.
Ganz so war es auch schon früher nicht. Ein Beispiel, das für sich spricht: „Mayer, kommen Sie mal her.“ Man ist per Sie, aber es ist nicht lange zu erörtern, ob hier der Angestellte mit dem Chef spricht oder umgekehrt; keine Spur von Kommunikation auf der gleichen Ebene.
Kommen wir zum Du.
Ein Element – so meine These – für das Raumgreifen des Du und den Rückgang des Sie ist der gesellschaftliche Wandel, insbesondere seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Du wurde mehr und mehr als Indikator gesellschaftlichen und politischen Fortschritts gesehen und gebraucht. Es war ein Vehikel, um fortschrittliche Gesinnung auf dem Weg zur „modernen“ Gesellschaft der Zukunft sichtbar werden zu lassen.
Diese Bewegung ging in ihrer Masse von der damaligen Jugend aus. Diese Jugend ist inzwischen alt geworden, dem Du haftet aber immer noch der Nimbus des Jugendlichen an. Schon vor dreißig Jahren wurden die westlichen Gesellschaften als „kindlich“ analysiert. Das Du ist in einer Gesellschaft, die sich weigert, erwachsen zu werden, die folgerichtige Form der Ansprache.
Das Du der Jugend traf auf einen mächtigen Verbündeten: Das Du derjenigen, die als Arbeiter, Handwerker oder sonst im gewerblichen Bereich arbeiteten. Eine amüsante Zwischenform sei erwähnt, die ich oft in Kaufhäusern gehört habe, wo man offiziell per Sie war und die Kolleginnen auch mit Nachnamen per Lautsprecher ausrufen mußte. Beim Zusammenarbeiten klang das dann so: „Frau Müller, kannst du mir mal helfen, die Wäsche auszuzeichnen?“
Das Du traf zu seiner Verbreitung also auf fruchtbaren Boden. Das Internet mit seinem allgegenwärtigen Du hat das Wachstum noch stark beschleunigt.
Inzwischen ist schon mehr als eine Generation herangewachsen für die das Sie eher befremdlich klingt. Manche können die Formen rund um das Sie schon nicht mehr richtig handhaben und fallen nach dem dritten Satz unmerklich ins Du.
Durch den Wunsch, auch mit grauen Haaren noch der Jugend anzugehören, wurde diese Tendenz noch beschleunigt.
Das Du in der Arbeiterschaft war üblich, seit man von einer solchen sprechen kann (in der SPD, die seit über 150 Jahren besteht, sind alle Genossen per du). Das Du der Jugend dagegen, war früher auch vom Stand abhängig. In einer Zeit, als man mit 18 Jahren meistens schon seit vier Jahren im Berufsleben stand, duzte man natürlich jugendliche Kollegen, unbekannte Gleichaltrige aber nicht unbedingt. An den Universitäten gab es, solange man nicht befreundet war, den „Herrn Kommilitonen“ und als meine Mutter mit 16 Jahren von einem ihr seit der Kindheit vom Sehen bekannten 18-jährigen, ihrem späteren Mann, mit den einfallsreichen Worten, „Na, bist du auch da!?“, angesprochen wurde, war sie über die vertrauliche Anrede leicht pikiert.
In unserer alternden Gesellschaft ist Jugendlichkeit erstrebenswerter denn je. Wenn in letzter Zeit auch einige Bücher erschienen sind, die den Wert der Reife und die positiven Seiten des Alters betonen, so beweist dies nur, wie schwer sich eine Generation mit der Tatsache tut, eben nicht mehr zur anziehenden Jugend zu gehören.
Wenn Jugend und Erwachsene bis über die Lebensmitte hinaus das Du zum Standard in der Kommunikation erhoben haben, dann wird sich derjenige, der nicht diesem Standard entsprechen will, sehr schwer tun, weil er ein Außenseiter ist.
Um das Sie in der gesprochenen Interaktion zu verwenden, wird man also künftig mehr und mehr, nicht unbedingt Zivilcourage, aber ganz sicher selbstbewußte Eigenständigkeit benötigen. Aber war dies nicht schon immer so, wenn man gegen den Strom schwamm?
Das alte Adels-Sie, vom stolzen Bürgertum später adoptiert, hat seine Glanzzeiten gewiß hinter sich. Möglicherweise wird es in seiner Verwendung noch ein gewisses Auf und Ab geben. Wahrscheinlich aber geht es auf längere Sicht unter. Nicht auszuschließen ist allerdings, daß es bewußt von einem kleineren Kreis sich elitär verstehender Sprecher verwandt und gepflegt werden wird.
Da nur der Wandel Bestand hat, wird es eine andere Form oder Weise der respektvollen und höflichen Anrede geben. Das gleichmacherische Du wird sich spätestens dann häuten, wenn das Sie völlig ungebräuchlich geworden ist. Der Grundton in der Gesellschaft wird umschlagen, das Bedürfnis, sich von anderen abzugrenzen, Unterschiede stärker zu betonten, wird wieder wachsen. Wie genau dies geschehen wird, kann man indes nicht voraussagen. Doch welche Möglichkeiten es vielleicht gibt, zeigt uns der Blick auf andere Sprachen. Hierzu mehr in der nächsten und letzten Folge dieser kleinen Reihe. August 2024
Der lange Abschied des Sie
Teil I
Als meine kleine Schwester, es war um das Jahr 1960, unsere Zugehfrau mit, „Du, Frau Kuhn“, ansprach, lachte ich sie aus, weil sie nicht wußte, daß man Erwachsene zu siezen hatte, – und schämte mich dann dafür. Frau Kuhn sagte nichts. Heute würde sie wahrscheinlich antworten, „Ich bin die Katharina.“ Damals war das übrigens ein völlig unmöglicher, altmodischer Name für eine Frau von Mitte Dreißig. Im Kindergarten gab es Tante Gisela, die damals wohl kaum zwanzig Jahre alt war und die man als „Tante“ wohl auch duzen durfte. Die Leiterin war eine Ordensschwester, die als „Schwester“ und per Sie angeredet wurde.
In der Arbeitswelt herrschte unter Kollegen in Fabrikhallen und Werkstätten das Du vor, im Verhältnis Vorgesetzter und Untergebener siezte man sich. Dagegen war in den Büros das Sie gängig und es konnte vorkommen, daß Menschen ein Arbeitsleben lang als Kollegen im gleichen Büro verbrachten, sich gut verstanden und sich bis zur Pensionierung siezten.
Der Übergang vom Sie zum Du war ein formeller Akt, man schüttelte sich die Hand und nannte seinen Vornamen. Fand dieser Akt in geselliger Runde statt, was, wie es in der Natur der Dinge liegt, der häufigere Fall war, dann kamen noch weitere Formalia der Verbrüderung hinzu: Die Einführung des Du wurde durch das Brüderschaft-Trinken bekräftigt. Man erhob das Glas, prostete sich zu oder verschränkte die das Glas haltenden Arme beim Trinken. Handelte es sich um ein gemischtgeschlechtliches Brüderschaft-Trinken, durfte man sich küssen. Dabei ist zu bemerken, daß der Ernsthaftigkeit der Angelegenheit nicht dadurch Genüge getan worden wäre, daß etwa „Bussi-Bussi“-Wangenküßchen ausgeteilt wurden. Derartiges war früher nicht im Schwange. Nein, wenn schon, dann richtig. Geküßt wurde auf den Mund, jawohl! Bei geschlossenen Lippen natürlich.
Soviel zu früher. Heute stellen wir fest, daß die Verwendung des Sie schon seit Jahrzehnten zurückgeht. Das ist offensichtlich. Der Gebrauch des Sie ist inTeilen der Gesellschaft völlig ungebräuchlich geworden. Manche fühlen sich unbehaglich, wenn sie gesiezt werden, oft wohl auch deswegen, weil sie selbst das Sie gar nicht mehr richtig zu verwenden wissen, obwohl sie das hiesige Schulsystem mit Erfolg durchlaufen haben.
Ich mag es nicht, wenn mich junge Leute, die Deutsch offensichtlich sehr gut beherrschen und meistens sogar Muttersprachler zu sein scheinen, im Einzelhandel, der Gastronomie oder als Fremdenführer duzen. Wo bleibt denn der sonst immer so lautstark eingeforderte Respekt? Manche Vertreter meiner Generation finden es gut, wenn sie von jungen Leuten, die ihre Enkel sein könnten, geduzt werden. Ob sie sich dadurch jünger fühlen? Welch ein Trugschluß! Weder die Sprache noch peinlich schrille Kleidung ändern etwas an der Tatsache, daß ein alter Mann als solcher wahrgenommen wird. Der Kontakt zur jungen Generation kommt auf andere Weise zustande, aber das soll heute nicht das Thema sein.
Im Einzelhandel gibt es das Rewe-Du. Bestellt man etwas im Internet, wird man sowieso geduzt, weil das ja die junge, moderne Welt sei. (Dabei hat man noch nicht realisiert, daß erstens seit inzwischen dreißig Jahren das Bestellen im Internet völlig normal ist und zweitens heute gerade die 85-jährigen per Internet bestellen, weil sie oft nicht mehr so gut auf den Beinen sind und schwere Waren nicht mehr heimtragen können.)
Interessant aber ist die Feststellung, daß die Allgemeinen Geschäftsbedingungen immer per Sie formuliert sind. Da ist es dann mit der Freundschaft aus. Ist Ihnen das schon einmal aufgefallen?
Unter Arbeitskollegen kann man dem Du nicht mehr entkommen, wenn man nicht als eigenbrötlerischer Außenseiter gelten will. Auch der Lehrling muß die Chefin oder den Chef duzen, wobei mir schon Fälle bekanntgeworden sind, bei denen den Mitarbeitern die Duzpflicht sehr unangenehm war. Wenn dann noch ein Mitarbeiter, von oben herab wie ein Untergebener behandelt wird, dann schafft die auch die Anrede mit Du keine „wertschätzende Atmosphäre“.
In privaten Gesellschaften, deren Teilnehmer das Jugendalter schon seit Jahrzehnten hinter sich gelassen haben, wird man als Neuankömmling mit, „Das ist der Matthias!“ eingeführt. Es wird keine Rücksicht darauf genommen, ob man – a) mit allen Gästen und b) dies auch auf der Stelle – auf so trautem Fuß stehen mag. Ist man, auf diese Weise geht das rasch, mit einem Mitglied einer Familie oder eines Freundeskreises per Du, dann folgt die Quadratur schneller als die Vervielfältigung des Reiskorns auf dem Schachbrett. Alle duzen einen, vom Kind in der Krippe – nein, das Jesuskind ist nicht gemeint, mit dem sind wir schon seit Urzeiten per Du – über die Schwägerin bis zur Urgroßmutter.
Schier unerträglich gar wird es im Krankenhaus. Das gemeinsame Schicksal als Patient zwingt zum Duzen, sei einem der Mitpatient noch so unsympathisch. Das gleiche gilt für das Gefängnis, mit dem Unterschied allerdings, daß man sich dort noch nie gesiezt hat und daß man dem Krankenhaus in aller Regel schneller den Rücken kehren kann.
Dann gibt es auch noch das Volkshochschul-Du. Ich weiß nicht, ob dies aus der Arbeiterbewegung kommt, wo man sich untereinander schon seit jeher duzt, erinnere mich aber an Sprachkurse in meiner Jugend, bei denen sich noch die Teilnehmer alle siezten. Ich habe nichts dagegen, mich mit Leuten zu duzen, auch wenn ich nicht schon lange mit ihnen befreundet bin, aber das zwangsweise Du von und gegenüber Personen, die ich im Grunde überhaupt nicht kenne und mit denen mich nicht mehr als ein gewisses Interesse an einem bestimmten Thema verbindet, stört mich.
Eines ist klar: Man kann diese Entwicklungen begrüßen, bedauern oder gleichgültig zur Kenntnis nehmen. Ändern kann man sie nicht, aber darüber sprechen, das darf schon sein.
So viel für heute zu dem Thema. Demnächst folgen einige Betrachtungen, woher das Sie eigentlich kommt und wie die Höflichkeit in anderen Ländern zum Ausdruck gebracht wird.
12. Juli 2024
Die Ferienwohnung: Wie man Abenteuer findet, wo man sie nicht gesucht hat
Sie vermittelt schon vorab einen Hauch von Abenteuer. Kurz vor Ankunft am Urlaubsort steigt die Spannung. Liegt die Wohnung wirklich im Grünen, wie angekündigt, und wie sieht sie von innen aus?
Wir wissen schon: Bilder sind geduldig, die heutigen Möglichkeiten der Aufnahmetechnik schier unbegrenzt und so muss sich der Feriengast allzu oft auf Enttäuschungen gefasst machen. Dabei wollen wir heute nicht über die Lage der Wohnung sprechen und darüber, dass der nächste Bäcker erst im fünf Kilometer entfernten Dorf zu finden ist, was uns vorab niemand verraten hat.
Wir wollen auch nicht über Küchenschaben, Ratten und Mäuse sprechen. Nein, das sind doch außergewöhnliche Ausnahmen, die unser Bild von der Ferienwohnung als solcher nicht trüben dürfen.
Es geht um das Interieur und darum, wie sich der Gast fühlt, der in seinen Ferien zwangsweise in die Geschmackswelt eines Ferienwohnungseigentümers gepresst wird. Oft genug wird es noch nicht einmal dessen eigene Geschmackswelt, sondern die seiner Großmutter sein. „Was machen wir mit den Möbeln von der Oma, die im letzten Winter gestorben ist?“ Da sich Oma in ihren Möbeln immer wohlgefühlt hat, darf man annehmen, dem Feriengast werde ich es genauso gehen.
Oma Gertrud konnte die Wäsche, die sie in ihrer Jugend als Aussteuer geschenkt bekommen hatte, 1972 nicht mehr sehen und hat alles ausgetauscht. Die Wäsche ist daher noch gut und findet in der Ferienwohnung Verwendung. Die ockerfarbenen Handtücher kann man zwar nicht mehr gerade als flauschig bezeichnen, aber sie trocknen einen ab und wir kommen mit ihnen prima zurecht.
Die Bettwäsche – nun ja, sie könnte auch schon ein klein wenig älter sein, vielleicht wurde sie im Sommerschlussverkauf 1967 erstanden. Damals waren knitterarme Nylonstoffe hochaktuell. Die Bettwäsche ist wirklich glatt, da gibt es keine Einwände, nur erzeugt das Nylonmaterial (ich kenne das noch von meinen Sonntagshemden in den sechziger Jahren) nicht nur ein trockenes Gefühl im Mund. Schlimmer ist, dass man in dieser Bettwäsche immer entweder schwitzt oder friert. Wer‘s nicht glaubt, dem sei ein Selbstversuch empfohlen. Die Muster oder Dessins dagegen (Design sagte man damals noch nicht), könnten bei der jungen Generation auf Begeisterung stoßen.
Soweit es nichts kostet, also keine wirklichen Investitionen erforderlich sind, darf man Ferienwohnungen, die sich in Privatbesitz befinden, als Stätten der Verwirklichung ihrer Eigentümer studieren.
Lassen wir bei unserer Beschreibung der Dame des Hauses den Vortritt. Sie hat ein Gefühl für Dekoration und wäre am liebsten Innenarchitektin geworden. (Liebe Männer, ihr ahnt nicht, wieviele Frauen diese Berufung im Innersten spüren. Sprecht eure Partnerin mit ungeheucheltem Interesse darauf an. Sie wird euch euer Einfühlungsvermögen danken!) Die Dame des Hauses also, möchte den lieben Feriengästen den Aufenthalt so angenehm wie möglich machen und auch für das Auge etwas bieten. Die mit Muschelschalen aus dem Mittelmeerurlaub verzierten Spanschächtelchen sind wirklich süß! Aufgeklebte Stücke Schnur und die aufgemalten Anker geben Ihnen eine maritime Anmutung. Und so praktisch, vielseitig verwendbar! Schließlich hat man als Feriengast eine Menge Kleinkram, den man darin aufbewahren kann. Überhaupt ist die Ferienwohnung auch ein Hort der Bewahrung alter Traditionen. Die Nippeskultur aus dem Jahr 1900 hat hier überlebt. Nicht nur von Oma Gertrud, auch aus Urgroßmutter Wilhelminas Nachlass haben sich Gegenstände gefunden, welche die Ferienwohnung verschönern und dadurch Kunstsinn und Geschmack der Eigentümerin offenkundig machen.
Die Möbel sind nicht alle von Oma Gertrud. Sie wurden durch Bestände aus dem Jugendzimmer von Onkel Klaus ergänzt, der im letzten Spätsommer in den Vorruhestand getreten ist. Es sollen auch schon im Sperrmüll schöne Stücke gefunden worden sein, die die Ausstattung ergänzt und zur Behaglichkeit der Wohnung beigetragen haben.
Der kluge Eigentümer einer Ferienwohnung achtet darauf, dass die Kosten nicht aus dem Ruder laufen. Damit sind wir beim Herrn des Hauses. Schon Schiller hat es gewusst: Die Axt im Haus erspart den Zimmermann. Tatsächlich weisen die Do-it-yourself-Versuche der Hausherren in der Übungswerkstatt Ferienwohnung eher auf grobmotorische Fähigkeiten hin. Damit will ich nichts gegen Zimmerleute gesagt haben, die mit ihren Äxten fein ziselierte Arbeiten zustande bringen können. Der Heimwerker ist nicht pingelig. Er ersetzt Elektroinstallationen durch waghalsige Kabelkonstruktionen und sein Augenmaß ist beim Verlegen von Fliesen und Bodenbelägen das Maß aller Dinge (Der Spruch „passt schon“ scheint sich von Bayern aus über Deutschland und ganz Europa verbreitet zu haben). Wir wollen es bei diesen Beispielen bewenden lassen, sonst kämen wir nie zum Ende. Sie haben schon verstanden.
Über Sauberkeit oder Reinlichkeit wollen wir uns hier nicht weiter auslassen. Es gibt nun einmal keine DIN-Norm für diese Dinge. Es ist wie mit dem Glück. Jeder hat hiervon eine andere Vorstellung.
Doch zum Schluss noch ein paar Ratschläge, falls Sie noch keine Erfahrungen mit privaten Ferienwohnungen haben sammeln können.
- Sollten die von Ihnen vorgefundenen Handtücher unangenehm riechen, dann schauen Sie in der Küche auf der Waschmaschine nach. Sie werden feststellen, die letzte Wäsche wurde bei 30° durchgeführt. Es handelt sich in diesem Fall um klimabewusste Eigentümer, die Ressourcen schonen und Handtücher sowie Putzlappen zusammen bei 30° waschen.
- Wenn Sie im Hochsommer eine Wohnung auf Mallorca mieten, fragen Sie vorher genauestens nach den Zudecken im Schlafzimmer. Manche Privatvermieter frösteln auch bei 30° Nachttemperatur und überlassen ihren Feriengästen fürsorglich die dicken Federbetten, die sie in Norddeutschland nicht mehr gebrauchen konnten.
- Beschweren Sie sich nicht über zu hohe Mietpreise in Großstädten. Bedenken Sie, der Sozialmieter, der jetzt bei seiner Freundin eingezogen ist und Ihnen freundlicherweise die Sozialwohnung überlassen hat, hat auch ein Anrecht darauf, etwas hinzuzuverdienen. Wenn Sie feststellen, das Schlafzimmer ist ohne Fenster und statt einer Tür gibt es nur einen Vorhang zum Wohnzimmer, dann sehen Sie, wie schlecht es um die Wohnsituation mancher Leute bestellt ist.
- In der Großstadt ist auch damit zu rechnen, dass Sie zu Preisen für eine Suite im Vier-Sterne-Hotel statt eines Bads eine schlauchartige schmale Kammer vorfinden, deren hinteres Ende nicht gefliest ist, daher auch nicht gereinigt werden kann und entsprechend unangenehm riecht. Wundern Sie sich nicht, wenn als Hindernis vor der Dusche eine Toilette so eingebaut ist, dass die Dusche nur von sehr gelenkigen Personen, die außerdem nicht übergewichtig sein dürfen, genutzt werden kann.
- Zu guter Letzt: Heben Sie bei der Ankunft als Erstes den Toilettensitz einmal hoch. Das ersetzt eine Inspektion der Wohnung und erspart Ihnen Zeit, die Sie für die Suche nach einem Hotelzimmer nutzen können.
Gute Reise und einen schönen Urlaub!
9. Juni 2024
Sie dürfen sich wieder anziehen!
Wer kennt diesen Satz nicht? Es gibt kaum eine Arztpraxis, in der er nicht gang und gäbe ist. Man erinnert sich unwillkürlich an seine früheste Kindheit. Der Onkel Doktor sendet der Mutter einen einvernehmlich-beruhigenden Blick zu, der signalisieren soll, dass alles in Ordnung sei, und sagt, ohne den kleinen Patienten dabei anzusehen, die erlösenden Worte: „So, der kleine Matthias darf sich jetzt wieder anziehen. Kannst du das schon alleine?“
In leicht abgewandelter Form ist mir das auch schon Jahrzehnte später vorgekommen. Zwei Mitarbeiterinnen der Arztpraxis sind im Raum und haben eine Untersuchung durchgeführt. Die Ranghöhere der beiden gibt ihrer Kollegin die vom mithörenden Patienten problemlos zu verstehende Anweisung: „Der Herr Wolf darf sich jetzt wieder anziehen.“
Wie schön! Man muss nicht auf der Liege übernachten. Überhaupt, in Arztpraxen „darf“ man so manches. Man darf zum Beispiel beim Röntgen die Kleider in der Umkleidekabine lassen und muss sie nicht mit sich zum Gerät nehmen. Man darf im Wartezimmer Platz nehmen und muss nicht unbedingt stehen bleiben. Das Mitgliedskärtchen der Krankenkasse darf man auf Anweisung in das Lesegerät stecken und, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, darf man es auch wieder herausnehmen. Ob man es dann auch gleich wieder in seinen Geldbeutel stecken darf, erfährt man nicht. In der Regel tut man es ohne gesonderte Erlaubnis.
Zugegeben: Der Sprachgebrauch vieler Ärzte hat sich etwas gewandelt und der Gebrauch des „Dürfens“ ist bei ihnen zurückgegangen. Bei den Mitarbeitern allerdings wird noch mit Inbrunst „gedürft“. Das „Dürfen“ wird betont und auf der Zunge ausgekostet. Bereits Auszubildenden im ersten Lehrjahr wird Autorität übertragen, indem sie von den Stürmen des Lebens deutlich gegerbten Personen Erlaubnisse erteilen.
Sie meinen, das müsse man nicht ernst nehmen, es sei doch nur gedankenlos dahergesagt? Sicherlich wird sich kaum jemand, der diese Wendungen täglich unzählige Male verwendet, etwas dabei denken. Muss einen dann nicht ein unbehagliches Gefühl beschleichen? Kann sich ein Patient, dem es nicht gut geht und der dabei mit gedankenlosen Floskeln dirigiert wird, wie jemand fühlen, der im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wohlwollender Begleiter auf seinem Weg zur Genesung steht? Ich bin durchaus der Meinung, dass man es mit der heute allenthalben eingeforderten „Wertschätzung“ nicht zu übertreiben braucht und erwarte in einer Arztpraxis auch keine Kuschelatmosphäre.
Aber auch gedankenlose Sprache verrät viel über die Einstellung dessen, der sie verwendet. Sagt der Arzt dem Leberkranken, dass er keinen Alkohol trinken darf, drückt er nur eine medizinische Kenntnis über Körperfunktionen und -reaktionen aus. Dagegen wird der Patient, der das Kärtchen in das Lesegerät stecken darf, wie ein Kleinkind oder eine hilflose Person behandelt.
Ich nehme es weiterhin mit Humor, mache gelegentlich eine spaßige Bemerkung und ernte dann stets einen verständnislosen Blick. Denn das „Dürfen“ ist eine bitterernste Sache.
18. Mai 2024