Der Frauen gegenüber scheue Kriminaloberrat Hermann-Joseph Schnabeltasse ist verliebt. Er wartet auf ein Zecihen seines geliebten“Schneewittchens“, wie er die Angebetete im stillen nennt, da er sie bald wiedersehen will. Das Folgende kommt dazwischen:
Vor dem Haupteingang des Hessischen Landeskriminalamts steht ein Fahrrad, an dem sich ein verdächtig aussehendes Subjekt zu schaffen macht. Dieses nachlässig gekleidete Wesen mit unfrisierten, pappigen und dringend eines ordentlichen Schnitts bedürftigen Haaren sieht verwahrlost aus, was auf seinen kriminellen Charakter bereits hindeutet und jedweden Verdacht zu begründen vermag. Wie der Zufall es so will, kehrt Hermann-Joseph gerade von einem Dienstgang zurück. Er trägt keine Dienstwaffe, dafür ist er mit einer gewissen Mißstimmung versehen.
Das Telefonat mit Schneewittchen letzte Nacht hat ihm bitteren Wermut in den süßen Wein seiner Hoffnungen geträufelt. Gleich heute morgen hat er ihr eine elektronische Kurznachricht geschickt und sie gebeten, ob sie nicht am Abend telefonieren könnten. Er meine es ernst. Gerade hat sie ihm geantwortet, das ginge nicht, da heute die Weihnachtsfeier der Ballettschule stattfände. Alle Eltern wären eingeladen, und die Eleven der Schule führten dabei selbstverständlich ihre Künste vor. Sie würde daher erst sehr spät nach Hause kommen. So wie dies alles formuliert ist, zweifelt Hermann-Joseph, ob es ihm gelingen werde, ihr Mißtrauen zu zerstreuen und sie von seiner Aufrichtigkeit zu überzeugen.
Als er in solch übellauniger Verfassung den Gesetzesbrecher wahrnimmt, erfaßt er blitzschnell die Situation und wendet sich wütend mit unwirschen Worten an das wüste Wesen: »Was machen Sie da?«
Die kriminelle Kanaille kontert und überrascht den Fragesteller damit, daß sie die rhetorische Frage, die nur ein Ausdruck von Unwillen ist, tatsächlich beantwortet.
»Ich klaue ein Rad.«
Der klauwillige Kerl verzieht seine unrasierten Backen – Kriminelle sind ja praktisch immer unrasiert – zu einem dreckigen Grinsen, richtet sich auf und rennt auch schon davon. Hermann-Joseph, wiewohl körperlich noch gut in Form, sieht ein, er hat keine Chance, den flinken Flegel durch Verfolgung flugs zu fangen. Geistesgegenwärtig ergreift er aber den am Boden liegenden Bolzenschneider und schleudert ihn dem fliehenden Straftäter hinterher. Das ist sicher nicht ganz ohne Risiko, weder für den Freund fremder Fahrräder – man darf annehmen, das Aufschlagen eines Werkzeugs am Hinterkopf beschert dem Träger des Kopfes ein sehr unangenehmes Gefühl – noch für den wackeren Hermann-Joseph. Denn er stünde sicherlich unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck, erschlüge er einen einfachen Fahrraddieb, auch wenn er unrasiert ist und wirklich kriminell aussieht, mit einem schweren eisernen Bolzenschneider.
Man sollte indessen in seine Betrachtungen einbeziehen, daß der Heldenhafte einst hessischer Jugendmeister im Speerwurf war und ihm daher einiges zuzutrauen ist. In der Tat. Er schafft es, sein Geschoß so schnell, so weit und so zielgerichtet zu werfen, daß er den flüchtenden Bösewicht – gerade noch am Knie erwischt. Der Schurke stolpert und fällt. Hermann-Joseph eilt zu ihm hin und schnappt sich das Früchtchen – Fallobst sozusagen. Inzwischen sind auch die Beamten im nur einhundert Meter entfernten Wachhaus endlich aufmerksam geworden, kommen hinzu und kümmern sich um alles weitere.
Immer noch übellaunig schnauzt sie Herr Schnabeltasse an:
»Wie kann das überhaupt passieren, daß hier in der Schutzzone vor dem LKA jemand am Zaun einen Gegenstand hinterläßt, und sei es nur ein angekettetes Fahrrad! Nächstens legt hier einer eine Tasche mit einer Bombe ab und Sie merken nichts!«
Der Fahrraddieb feixt, und wenn die Blicke der Beamten töten könnten, hätte es zwei Opfer gegeben.
Im Amt hat sich Herrn Schnabeltasses beherzte Tat schnell herumgesprochen. Zwar ist man – das ist überhaupt keine Frage! – gewohnt, dickere Fische zu fangen, aber solch schnelle Erfolge in der Kriminalitätsbekämpfung führen auch in der dünnen Luft der Verfolger von Terrorismus, internationalen Wirtschaftsdelikten und sonstigen Großverbrechen zu einem würzig-erdigen Hauch aus dem Sumpf des Bodensatzes der Straftaten, den selbst der kriminalistische Überflieger immer wieder gerne riecht.
Herr Kerschensteiner befindet sich aus undurchsichtigen Gründen nicht im Amt. Frau Hoffart, die Amtsleiterin selbst ist es, die bei Herrn Schnabeltasse im Büro vorbeischaut.
»Donnerwetter, Herr Kollege, Sie können‘s noch. Ganz der Alte. Ich habe davon gehört, wie Sie sich heute den Fahrraddieb geschnappt haben. Allerdings hat das 3. Revier in der Willi-Brandt-Allee gerade angerufen. Der des Diebstahls Beschuldigte hat gegen Sie Strafanzeige wegen Körperverletzung im Amt erstattet. Der Bolzenschneider hat ihn zwar nicht weiter verletzt, er wird allenfalls einen blauen Fleck hinterlassen. Beim Hinfallen ist er indessen unglücklich aufgekommen und behauptet, sich die rechte Kniescheibe gebrochen zu haben. Das ist sehr unschön. Schlagzeilen über durch die Polizei ausgeübte Gewalt können wir nicht brauchen.«
Ohne es zu ahnen verstärkt sie Hermann-Josephs Zerknirschung, der sich im nachhinein Vorwürfe gemacht hat. Der Wurf mit dem Bolzenschneider hätte ins Auge, genaugenommen auf den Hinterkopf, gehen können. Wäre das die Festnahme eines Fahrraddiebs wert gewesen? Jetzt steht er da wie vom Donner gerührt. Es ist also doch nicht glimpflich ausgegangen. Das anstehende Ermittlungsverfahren hat seine Heldentat zum Rohrkrepierer werden lassen.
»Ich habe etwas für Sie«, fährt die Präsidentin fort. »Hier ist der Bescheid über Ihre sechsmonatige Abordnung an das Sächsische Landeskriminalamt in Dresden im Rahmen des EuAphessPoPobeandBulä. Wenn Sie mir hier den Zugang quittieren wollen. Übrigens, im Vertrauen gesprochen, ich habe Pläne mit Ihnen. Bitte behalten Sie es noch für sich, aber Herr Kerschensteiner ist vorläufig vom Dienst suspendiert worden. Unter uns Frauen war er schon länger als Grabscher bekannt. Jetzt ist er zumindest in einem Fall noch darüber hinausgegangen, und eine Kollegin hat ihn angezeigt. Selbst wenn an der Sache nichts dran sein sollte, werden die anderen kleineren Vorfälle genügen, um ihn von seiner jetzigen Stelle auf die Leitung eines kleineren Polizeireviers in ›hessisch Sibirien‹ zu versetzen.«
Herrn Schnabeltasse tun die Polizisten in »hessisch Sibirien« leid und er stellt sich vor, daß es dort viele Versetzungsgesuche geben und mancher Beamte lieber ins ungemütliche Frankfurt mit höheren Lebenshaltungskosten wechseln wollen wird.
»Wenn Sie aus Dresden zurückkommen, überdies mit den Erfahrungen, die Sie in einer anderen Behörde gemacht haben, könnte ich Sie mir hier gut auf seinem Posten vorstellen. Zwar muß die Stelle ausgeschrieben werden, aber Sie wissen ja wie das läuft. Beim Innenministerium habe ich schon einmal vorsichtig vorgefühlt, und den Personalrat haben Sie sowieso auf Ihrer Seite. Leitender Kriminaldirektor würden sie freilich nicht sogleich werden. Wir müssen Sie erst einmal zum Kriminaldirektor befördern und danach etwas zuwarten.«
Sie tritt einen Schritt näher an ihn heran und ihre dezent bemalten Lippen weiten sich zu einem verführerischen Lächeln.
»Was meinen Sie, wollen wir die Sache morgen abend zur Einleitung des Wochenendes bei einem netten Essen im ›Le coq qui rit‹ besprechen? Das Lokal hat vor kurzem einen Stern im ›Guide Gummiwerke Müller Castrop-Rauxel‹ erhalten und ich habe jetzt kurz vor Jahresende noch einen Posten für Bewirtungen, den ich aufbrauchen muß, sonst wird er mir im nächsten Haushalt nicht mehr bewilligt.«
Sie streicht sich mit eleganter Geste durchs Haar.
Hermann-Joseph ist perplex. Noch ist er nicht so abgebrüht, daß er alle weiblichen Ränke von Anfang an gleich durchschaut, dennoch hat er in der letzten Zeit einiges dazugelernt.
»Nun«, fragt sie ihn freundlich auffordernd, als er – als feiner Herr hat er sich bei ihrem Eintreten von seinem Platz erhoben –, die Hände in den beiden Seitentaschen seines Rocks vergraben, offensichtlich unschlüssig vor ihr steht. Er ist in Nöten. Er muß unbedingt mit Schneewittchen telefonieren und die Mißverständnisse aus der Welt räumen, am Sonntag ist doch schon der vierte Advent und nächste Woche ist Weihnachten. Er will sie doch jetzt ganz schnell wiedersehen und das muß besprochen werden.
Das Angebot, sich auf Kerschensteiners Position zu bewerben, kommt ihm auch etwas zu plötzlich. Er weiß nicht, ob er das überhaupt will. Schließlich ist sein Leben derzeit auf den Kopf gestellt. Andererseits ist das Angebot, das ihm Frau Hoffart gemacht hat, auch nicht von der Art, daß man es rundweg ablehnen könnte und sollte.
Er wittert auch etwas, was ihm früher nicht aufgefallen wäre: Das Angebot kommt nicht nur von seiner obersten Chefin, es kommt von einer Frau als weibliches Wesen. Er schmeckt eine Ahnung des Dufts einer unsichtbaren Verführung. Er nimmt die Hände aus den Taschen und knetet sich das rechte Ohr.
Weil es ihn besorgt und um Zeit zu gewinnen fragt er:
»Und das Ermittlungsverfahren?«
»Klar, da darf jetzt nichts Unangenehmes dazwischenkommen.«
»Morgen abend habe ich leider eine Verabredung, die ich nicht mehr absagen kann«, sagt er nach einigem Zögern. Er stockt; einerseits weiß er nicht, ob es nach der Erfahrung mit Ingeborg richtig wäre, mit seiner Chefin essen zu gehen. Trotzdem überlegt er, ihr den Vorschlag zu machen, das Essen auf den heutigen Abend vorzuziehen. Er kann sich jetzt noch nicht entscheiden, ob er sich bewerben will, er weiß aber auch, daß ihm nicht viel Zeit bleibt. Am ersten Februar soll er bereits die Stelle in Dresden antreten und vorher sind die Feiertage. Außerdem muß er noch seinen restlichen Urlaub nehmen.
Er wird der Entscheidung enthoben: »Gut, dann besprechen wir das nach den Feiertagen, Herr Kollege.«
Ihr Ton ist deutlich kühler geworden.
Herr Schnabeltasse hat einen Dieb auf frischer Tat ertappt, festgenommen und dafür Anerkennung unter seinen Kollegen gefunden. Seine oberste Chefin hat ihm eine Beförderung in Aussicht gestellt und ihn spüren lassen, daß sie ihn – zumindest – interessant findet. Zudem ist es ihm gelungen, seinen Resturlaub jetzt am Stück nehmen zu können. Er hat die ganzen Feiertage über bis nach dem Dreikönigstag frei. Selbst seinen Bereitschaftsdienst konnte er verlegen. Trotzdem verläßt Herr Schnabeltasse heute das LKA verdrießlich. Als er sich unbeobachtet wähnt, kickt er sogar auf seinem Fußweg zum Hauptbahnhof eine leere Bierdose vom Trottoir auf den Rasen eines gepflegten Vorgartens.