Der Kettenknecht im Kassenkabuff

Ein hocheiliger Fall. Gerichtskosten müssen mit der Klage eingezahlt werden. Man kann dies mittels Scheck tun – wenn man geduldig ist und drei Wochen Zeit hat. Ich habe keine Zeit. Der Fall ist nicht nur eilig, er ist auch teuer. Daher sind DM 53.715 schnellstens bar bei der Gerichtskasse abzuliefern. Mein Instinkt sagt mir: Schwierigkeiten sind zu gewärtigen. Mutig übernehme ich die Besorgung selbst. Einen dicken braunen Umschlag unter dem langen grauen Mantel versteckt, den Kragen hochgeschlagen und die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, mache ich mich durch den Nieselregen eines Novembertages auf den Weg. Ein prächtiger Tag für Sonderaufträge, ein Hauch Sherlock Holmes liegt in der diesigen Luft. Leider halten sich im Südbahnhof keinerlei verdächtige Gestalten auf, dagegen patrouillieren Mitarbeiter des Bahnschutzes und verderben mir die konspirative Stimmung.

            In der S-Bahn – ha! – ein Anruf meiner Sekretärin. Ich senke die Stimme und versuche unauffällig auszusehen. Alles läuft bestens. Ich ziehe meinen Mantel enger zusammen. Auf dem Weg ins Gericht folgt mir niemand. Nach der Eingangskontrolle, mein braunes Päckchen trage ich auch hier am Busen, wende ich mich gleich rechts in den braun-beigen Kassenraum.

            Es ist halb elf.

            Am Kassenschalter befindet sich eine blonde Anwältin, Anfang vierzig, in Robe. Sie kramt aufgeregt in ihren beiden Taschen, packt eine Menge loser Papiere aus und wieder ein, ohne die Klageschrift zu finden, auf welche sie die Gerichtskosten aufgestempelt haben will. „Das ist heute wieder ein Montag morgen!“, beteuert sie fortwährend. Sie wirkt, als habe heute morgen schon ein Richter durchblicken lassen, er halte ihren Schriftsatz für dümmlich. Er sagte das natürlich nicht so, sondern sprach von „weniger überzeugenden Rechtsausführungen“. Sie versuchte dann sehr wortreich und mit zahlreichen Wiederholungen, freilich vergeblich, den Prozeß noch zum Guten zu wenden. Dadurch geriet sie mit ihrem Zeitplan erheblich in Verzug und erschien zu ihrem nächsten Termin so sehr verspätet, daß bereits Versäumnisurteil gegen ihre Partei ergangen war. Ich mache mir einen Spaß daraus, weitere Mißgeschicke aus dem anwaltlichen Alltag zu phantasieren und stelle mir vor, ihre Sekretärin habe sich schon zum dritten Mal in sechs Wochen montags krank gemeldet und gleich um acht Uhr sei ein recht unangenehmer Anruf ihrer Bank mit der Frage eingegangen, wie sie sich denn nun die Rückführung ihres Überziehungskredits vorstellte. Während ich noch in meine Betrachtungen versunken bin, hat sie endlich die gesuchte Klageschrift aus einer ihrer Taschen gefischt und sich darauf die Höhe der gezahlten Gerichtskosten mit dem Freistempler quittieren lassen. Mit hochrotem Kopf klaubt sie ihre Papiere zusammen und wendet sich ab, um ihre Schriftstücke für das Gericht einzuwerfen. Ich bin dran.

            Nun wird es spannend. Mannhaft trete ich an den Schalter und trage dem Kassier mein Begehren vor:

            „Auf diese Klageschrift hätte ich gerne 53.715 Mark an Gerichtskosten aufgestempelt.“

            Das Gesicht des Kassiers, gerade noch ein gesunder Metzgersteint, entfärbt sich.

            „Des geht net!“

            Ich schaue den Mann an: Das Gesicht ist umrahmt von zwei Ohren mit einer Reihe von Ohrringen. Über einem langärmeligen Baumwollhemd trägt er ein grün-schwarzes Leibchen mit irgendeiner gefährlichen Aufschrift, in deren Mitte ein gelbes Zeichen prangt, welches ich zunächst für eine Siegrune halte, mich dann aber zu einer Deutung als Blitz entschließe. Ketten um Hals und Arme vervollständigen den Eindruck eines mittelalterlichen Reisigen, der für seinen Herrn und Ritter in der Fehde die Drecksarbeit machen muß.

            „Warum geht des net?“

            „Ei, so hohe Beträsch könne net bar eigezahlt wern.“

            „Und wieso?“

            Die aufgesetzte Forschheit des Kettenhemdes schwindet. „Unsern Gerichtskostefreistempele geht bloß bis 999 Mak.“

            „Dann müsse Se halt e paarmal stempele.“

            Ich lese die Antwort des Kettenknechtes hinter seiner Stirn und verkneife mir die Aufforderung zum Rechnen. Er ist, schwer atmend, schon dabei, beim Rechnen. Zu diesem Zweck setzt er eine Rechenmaschine in Betrieb, die vor meinem geistigen Auge alte Zeiten lebendig werden läßt. Vor Jahrzehnten, bei meinem Bankpraktikum in der Referendarzeit, arbeitete ich mit der gleichen Maschine. Der Kettenmann betätigt die Maschine, sie funktioniert auch, aber das Ergebnis scheint ihm nicht zu behagen. Durch die Panzerglasscheibe erklärt er mir, mit seinem Chef sprechen zu müssen und verläßt sein Kabuff durch die hintere Glastüre. Ich ergreife wieder mein braunes Päckchen und sehe mich um. Niemand ist hinter mir.

            Durch die Glastür des Kassenkabuffs kann ich die Justizangestellten in dem Raum dahinter beobachten. Ein älterer Mann sitzt an seinem Schreibtisch und wendet Überweisungen oder ähnliches mehrfach hin und her. Er scheint sich nicht entscheiden zu können, wie mit den Papieren zu verfahren sei. Er löst den Konflikt, indem er die Papiere niederlegt und sorgsam stapelt, um sodann auf seine Uhr zu schauen. Er trägt sie am rechten Arm, das Zifferblatt auf der Arminnenseite. Ein Nonkonformist! In der Zwischenzeit hat eine junge, hübsche Justizangestellte den Raum betreten und schäkert sehr vertraut mit einem Kollegen meines Alters. Ja, ja, meine Frau sagte früher schon immer, eine Tätigkeit in der Justiz hätte enorme Vorteile. Ich muß ihr nach so vielen Jahren recht geben. Inzwischen hat der Nonkonformist seine Tätigkeit wieder aufgenommen. Mit Spannung beobachte ich, wie er sich den Papieren zuwendet, da werde ich schon wieder abgelenkt. Sie steigt auf eine Leiter! Die junge hübsche Justizangestellte klettert auf eine Leiter, um Akten aus der oberen Regalreihe zu holen. Sie trägt zwar Hosen, trotzdem sieht sich der Nonkonformist genötigt, seine Papiere erneut niederzulegen. Mein Alterskollege, der Schlawiner, drängt sich an die Leiter und gibt sich den Anschein, für festen Stand sorgen zu wollen.

            In dem Moment kommt das Kettenhemd zurück. Es ist kurz vor elf.

Schwer atmend, unter leisem Klirren seines kriegerischen Schmucks, setzt der Kettenknecht die Rechenmaschine in Gang, rechnet mit derselben, um danach mit dem Kopf zu rechnen, wobei letzterer rot wird. Ich frage mich, ob Scham oder Wut die Ursache sei. Der Schwermetallfreund stiert mich an. Es wunderte mich nicht, wenn er aus der Ecke seines Kabuffs einen Morgenstern hervorzöge, um ihn gegen mich zu schwingen. Ich lächele kühl, zwischen uns ist dickes Panzerglas, ich kenne keine Furcht. Heavy Metal muß nochmal zum Chef. Mir macht das nichts aus, denn es ist hier ja wirklich unterhaltsam und viel los.             Inzwischen hat sich hinter mir eine Schlange gebildet. Ich presse das braune Päckchen mit den Geldscheinen fester an mich und sonne mich in meiner Wichtigkeit. Mein Blick sucht den Nonkonformisten. Er hat sich inzwischen entschieden und schält sich einen Apfel. Ich will gerade nach der Kletterkatze schielen, als Kettenhemd auch schon vom Chef zurück ist. Er rechnet mehrfach und die Rechnung scheint aufzugehen. Nachdem er die Maschine ausgiebig betätigt hat – sie kann nicht multiplizieren und später habe ich verstanden, daß er neunundfünfzigmal 900 DM addiert hat – wendet er sich dem Gerichtskostenfreistempler zu. Ein, sagen wir, recht traditionelles Gerät. Mein Oheim selig hatte ein solches in seinem Architekturbüro als Postfreistempler in Gebrauch – 1960 oder so. Ketterich nimmt mehrere Blätter und beginnt, 900 DM-weise Stempel aufzudrucken. Nach jeweils zehn Aufdrucken hält er inne und zählt nach. Da er die Vorder- und Rückseiten der Blätter bedruckt, vergißt er beim Zählen immer wieder, ob er die andere Seite des Blattes schon erfaßt hat und beginnt von vorne. Die Schlange hinter mir ist schon geschrumpft. Einige Anwälte mußten wohl zum Termin. Das Stöhnen der Wartenden in meinem Rücken bei jedem neuen Ansatz zum Zählen wird mir langsam unbehaglich. Die Waffenkontrolle am Eingang hat doch ihren Sinn. Der Kettenknecht stellt den Freistempler auf 615 DM. Ich atme auf.

            Es ist viertel zwölf. Das Paket mit den Geldscheinen paßt nicht durch den Schlitz. Ich blättere meine Schätze auf und gebe sie durch. Ich überlege, was ich tue, wenn der flinkfingrige Rechenkünstler auf der anderen Seite der Panzerglasscheibe an der Echtheit der Scheine zweifelt. Er hat aber keine Zweifel, jedenfalls sprechen die Schweißperlen auf seiner Stirn davon, daß er den Vorgang und mich endlich loswerden will. Er zählt noch nicht einmal die fünf Bündel zu jeweils 10.000 DM in Hundertmarkscheinen nach. Er ist doch nicht so nervenstark.

            Die Schlange hinter mir ist verschwunden. Während ich zusammenpacke, betritt ein Mann den Kassenraum. Ein Kirchenaustritt, sechzig Mark. Draußen hat der Regen aufgehört.

26. November 2001 – 10. Januar 2023

Matthias Alexander Wolf