Der Pralinenonkel

Samstags, kurz nach dem Mittagessen, war seine Zeit. Ich weiß nicht, wie oft er uns besuchen kam, vielleicht im Laufe der Jahre ein halbes dutzendmal: Onkel Otto, der Pralinenonkel.

Vater kam immer erst um halb drei Uhr von der Arbeit nach Hause und ich hatte, obwohl sonst ein ziemlich naiver Bub, den Eindruck, Onkel Otto käme hauptsächlich wegen meiner Mutter. Die beiden erzählten in der Küche, Mutter räumte auf. Wahrscheinlich war eher er derjenige, der erzählte, weil er etwas loswerden wollte, und Mutter hörte vor allem zu. Vielleicht half er ihr auch beim Geschirrabtrocknen. Das hätte uns von Pflichten entbunden und ihn uns Kindern noch sympathischer gemacht.

Die Attraktion seiner Besuche war die große Pralinenschachtel, die ihn zum „Pralinenonkel“ machte. Pralinen waren eine kostbare Seltenheit, die für die eigene Familie nie gekauft wurden. Nur großzügige Schenker brachten sie mit und trugen damit einen Hauch des Luxus in unser Heim. Selbst die größte Schachtel hält bei einer sechsköpfigen Familie nicht lange vor, und so wurde die Ausgabe der abgezählten Pralinen von Mutter vorgenommen. Der Charme der luxuriösen Welt verflog dabei auf der Stelle, denn es galt, standfest im Hier und Jetzt sein Interesse zu sichern. Marzipanpralinés waren die Favoriten der Kinder – und wohl auch der Mutter, die aber großmütig zurückstand. Schnapsbohnen wollte keiner.

Doch sind es nicht die Pralinen, weswegen Onkel Otto in den Tiefen meiner Erinnerung sitzt. Ich entsinne mich, wie ich an einem sonnigen Sommertag im Garten auf der Schaukel saß und durch die offenstehende Türe in die Küche blickte, in der sich Mutter mit Onkel Otto aufhielt. Ich sehe das Bild und spüre noch die Harmonie, die ich dabei empfand.

Onkel Otto war ein feingliedriger, zurückhaltender Mann mit schütterem braunen Haar, einer randlosen Brille und wasserblauen Augen. Er kam immer alleine. Die Tante, ich habe ihren Namen vergessen, war leidend, hieß es. Vielleicht kam sie aber auch nicht mit, weil sie mit meinen Eltern wenig anfangen konnte. Ich erinnere mich noch an ein Bild von ihr in Vaters Fotoalbum. Eine hübsche junge Frau mit einem runden Gesicht und einem kleinen Hütchen.

Onkel Otto war kein Verwandter, er war ein Nennonkel, ein Freund unserer Eltern, den ich mir nicht recht erklären kann. Mit den anderen Freunden unseres Vaters – Mutter pflegte keine eigenen Freundschaften – schien er nichts zu tun zu haben, er sprach als einziger Hochdeutsch, stammte offensichtlich nicht aus der Kurpfalz und hatte wohl eine gehobene Stellung inne, möglicherweise bei den Farbwerken Hoechst.

Später kam Vater vom Geschäft nach Hause. Er war seit sechs Uhr auf den Beinen, sicher müde und hungrig. Er begrüßte Onkel Otto verbindlich und riß den Gesprächsfaden an sich. Der Zauber der Harmonie war zu Ende.

Nach dem Kaffee fuhr Onkel Otto dann zurück. Er wohnte in Königstein im Taunus. Ich schaute nach, wo der Ort lag. Von Papa hatte ich Aral-Straßenkarten älterer Auflage. Königstein war als blauer Punkt dargestellt. Also gab es dort eine Aral-Tankstelle. Mehr wußte ich nicht von Königstein, das für mich etwas Exotisches hatte. Ich stellte mir vor, wie der Ort wohl aussähe, und malte mir eine Fahrt dorthin aus.

Seit meiner Kindheit hat Königstein im Taunus einen Reiz auf mich ausgeübt, der mir jahrelang nicht bewußt war. Las ich auf einer Käsepackung „i. T.“ zur Angabe des Fettgehalts, kümmerte mich als Kind die wirkliche Bedeutung der Abkürzung nicht. Mich erinnerte die Abkürzung jedesmal an Königstein i.T., im Taunus.
Irgendwann hörten die Besuche des Pralinenonkels auf. Jahre später bekam ich mit, die Tante sei verstorben. Vater hatte einen Kondolenzbrief an Onkel Otto geschrieben und dabei wohl den passenden Ton verfehlt. Onkel Otto war gekränkt und schien sich telefonisch bei Mutter beschwert zu haben. Wir haben nie mehr wieder etwas von ihm gehört.

Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal in Königstein war. Auf jeden Fall war ich schon längst erwachsen. Das Städtchen hat auch heute noch für mich eine besondere Anziehungskraft. Inzwischen glaube ich, sie liegt in der Erinnerung an die Harmonie jenes Samstagnachmittags im Sommer, als ich von der Schaukel aus in die Küche blickte.

Ein Umzug nach Königstein vor wenigen Jahren kam aus praktischen Gründen nicht in Frage. Das war wohl gut so. Denn gelegentlich, wenn mir danach ist, wenn der Zauber aus der Kindheit herüberscheint,  fahre ich von Bad Homburg nach Königstein, setze mich in der Hauptstraße in das Omacafé und stelle mir vor, daß Onkel Otto seinerzeit die Pralinen hier gekauft hat.

Matthias Alexander Wolf