Kategorie: Kurzgeschichten

Der Kettenknecht im Kassenkabuff

Der Kettenknecht im Kassenkabuff

Ein hocheiliger Fall. Gerichtskosten müssen mit der Klage eingezahlt werden. Man kann dies mittels Scheck tun – wenn man geduldig ist und drei Wochen Zeit hat. Ich habe keine Zeit. Der Fall ist nicht nur eilig, er ist auch teuer. Daher sind DM 53.715 schnellstens bar bei der Gerichtskasse abzuliefern. Mein Instinkt sagt mir: Schwierigkeiten sind zu gewärtigen. Mutig übernehme ich die Besorgung selbst. Einen dicken braunen Umschlag unter dem langen grauen Mantel versteckt, den Kragen hochgeschlagen und die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, mache ich mich durch den Nieselregen eines Novembertages auf den Weg. Ein prächtiger Tag für Sonderaufträge, ein Hauch Sherlock Holmes liegt in der diesigen Luft. Leider halten sich im Südbahnhof keinerlei verdächtige Gestalten auf, dagegen patrouillieren Mitarbeiter des Bahnschutzes und verderben mir die konspirative Stimmung.

            In der S-Bahn – ha! – ein Anruf meiner Sekretärin. Ich senke die Stimme und versuche unauffällig auszusehen. Alles läuft bestens. Ich ziehe meinen Mantel enger zusammen. Auf dem Weg ins Gericht folgt mir niemand. Nach der Eingangskontrolle, mein braunes Päckchen trage ich auch hier am Busen, wende ich mich gleich rechts in den braun-beigen Kassenraum.

            Es ist halb elf.

            Am Kassenschalter befindet sich eine blonde Anwältin, Anfang vierzig, in Robe. Sie kramt aufgeregt in ihren beiden Taschen, packt eine Menge loser Papiere aus und wieder ein, ohne die Klageschrift zu finden, auf welche sie die Gerichtskosten aufgestempelt haben will. „Das ist heute wieder ein Montag morgen!“, beteuert sie fortwährend. Sie wirkt, als habe heute morgen schon ein Richter durchblicken lassen, er halte ihren Schriftsatz für dümmlich. Er sagte das natürlich nicht so, sondern sprach von „weniger überzeugenden Rechtsausführungen“. Sie versuchte dann sehr wortreich und mit zahlreichen Wiederholungen, freilich vergeblich, den Prozeß noch zum Guten zu wenden. Dadurch geriet sie mit ihrem Zeitplan erheblich in Verzug und erschien zu ihrem nächsten Termin so sehr verspätet, daß bereits Versäumnisurteil gegen ihre Partei ergangen war. Ich mache mir einen Spaß daraus, weitere Mißgeschicke aus dem anwaltlichen Alltag zu phantasieren und stelle mir vor, ihre Sekretärin habe sich schon zum dritten Mal in sechs Wochen montags krank gemeldet und gleich um acht Uhr sei ein recht unangenehmer Anruf ihrer Bank mit der Frage eingegangen, wie sie sich denn nun die Rückführung ihres Überziehungskredits vorstellte. Während ich noch in meine Betrachtungen versunken bin, hat sie endlich die gesuchte Klageschrift aus einer ihrer Taschen gefischt und sich darauf die Höhe der gezahlten Gerichtskosten mit dem Freistempler quittieren lassen. Mit hochrotem Kopf klaubt sie ihre Papiere zusammen und wendet sich ab, um ihre Schriftstücke für das Gericht einzuwerfen. Ich bin dran.

            Nun wird es spannend. Mannhaft trete ich an den Schalter und trage dem Kassier mein Begehren vor:

            „Auf diese Klageschrift hätte ich gerne 53.715 Mark an Gerichtskosten aufgestempelt.“

            Das Gesicht des Kassiers, gerade noch ein gesunder Metzgersteint, entfärbt sich.

            „Des geht net!“

            Ich schaue den Mann an: Das Gesicht ist umrahmt von zwei Ohren mit einer Reihe von Ohrringen. Über einem langärmeligen Baumwollhemd trägt er ein grün-schwarzes Leibchen mit irgendeiner gefährlichen Aufschrift, in deren Mitte ein gelbes Zeichen prangt, welches ich zunächst für eine Siegrune halte, mich dann aber zu einer Deutung als Blitz entschließe. Ketten um Hals und Arme vervollständigen den Eindruck eines mittelalterlichen Reisigen, der für seinen Herrn und Ritter in der Fehde die Drecksarbeit machen muß.

            „Warum geht des net?“

            „Ei, so hohe Beträsch könne net bar eigezahlt wern.“

            „Und wieso?“

            Die aufgesetzte Forschheit des Kettenhemdes schwindet. „Unsern Gerichtskostefreistempele geht bloß bis 999 Mak.“

            „Dann müsse Se halt e paarmal stempele.“

            Ich lese die Antwort des Kettenknechtes hinter seiner Stirn und verkneife mir die Aufforderung zum Rechnen. Er ist, schwer atmend, schon dabei, beim Rechnen. Zu diesem Zweck setzt er eine Rechenmaschine in Betrieb, die vor meinem geistigen Auge alte Zeiten lebendig werden läßt. Vor Jahrzehnten, bei meinem Bankpraktikum in der Referendarzeit, arbeitete ich mit der gleichen Maschine. Der Kettenmann betätigt die Maschine, sie funktioniert auch, aber das Ergebnis scheint ihm nicht zu behagen. Durch die Panzerglasscheibe erklärt er mir, mit seinem Chef sprechen zu müssen und verläßt sein Kabuff durch die hintere Glastüre. Ich ergreife wieder mein braunes Päckchen und sehe mich um. Niemand ist hinter mir.

            Durch die Glastür des Kassenkabuffs kann ich die Justizangestellten in dem Raum dahinter beobachten. Ein älterer Mann sitzt an seinem Schreibtisch und wendet Überweisungen oder ähnliches mehrfach hin und her. Er scheint sich nicht entscheiden zu können, wie mit den Papieren zu verfahren sei. Er löst den Konflikt, indem er die Papiere niederlegt und sorgsam stapelt, um sodann auf seine Uhr zu schauen. Er trägt sie am rechten Arm, das Zifferblatt auf der Arminnenseite. Ein Nonkonformist! In der Zwischenzeit hat eine junge, hübsche Justizangestellte den Raum betreten und schäkert sehr vertraut mit einem Kollegen meines Alters. Ja, ja, meine Frau sagte früher schon immer, eine Tätigkeit in der Justiz hätte enorme Vorteile. Ich muß ihr nach so vielen Jahren recht geben. Inzwischen hat der Nonkonformist seine Tätigkeit wieder aufgenommen. Mit Spannung beobachte ich, wie er sich den Papieren zuwendet, da werde ich schon wieder abgelenkt. Sie steigt auf eine Leiter! Die junge hübsche Justizangestellte klettert auf eine Leiter, um Akten aus der oberen Regalreihe zu holen. Sie trägt zwar Hosen, trotzdem sieht sich der Nonkonformist genötigt, seine Papiere erneut niederzulegen. Mein Alterskollege, der Schlawiner, drängt sich an die Leiter und gibt sich den Anschein, für festen Stand sorgen zu wollen.

            In dem Moment kommt das Kettenhemd zurück. Es ist kurz vor elf.

Schwer atmend, unter leisem Klirren seines kriegerischen Schmucks, setzt der Kettenknecht die Rechenmaschine in Gang, rechnet mit derselben, um danach mit dem Kopf zu rechnen, wobei letzterer rot wird. Ich frage mich, ob Scham oder Wut die Ursache sei. Der Schwermetallfreund stiert mich an. Es wunderte mich nicht, wenn er aus der Ecke seines Kabuffs einen Morgenstern hervorzöge, um ihn gegen mich zu schwingen. Ich lächele kühl, zwischen uns ist dickes Panzerglas, ich kenne keine Furcht. Heavy Metal muß nochmal zum Chef. Mir macht das nichts aus, denn es ist hier ja wirklich unterhaltsam und viel los.             Inzwischen hat sich hinter mir eine Schlange gebildet. Ich presse das braune Päckchen mit den Geldscheinen fester an mich und sonne mich in meiner Wichtigkeit. Mein Blick sucht den Nonkonformisten. Er hat sich inzwischen entschieden und schält sich einen Apfel. Ich will gerade nach der Kletterkatze schielen, als Kettenhemd auch schon vom Chef zurück ist. Er rechnet mehrfach und die Rechnung scheint aufzugehen. Nachdem er die Maschine ausgiebig betätigt hat – sie kann nicht multiplizieren und später habe ich verstanden, daß er neunundfünfzigmal 900 DM addiert hat – wendet er sich dem Gerichtskostenfreistempler zu. Ein, sagen wir, recht traditionelles Gerät. Mein Oheim selig hatte ein solches in seinem Architekturbüro als Postfreistempler in Gebrauch – 1960 oder so. Ketterich nimmt mehrere Blätter und beginnt, 900 DM-weise Stempel aufzudrucken. Nach jeweils zehn Aufdrucken hält er inne und zählt nach. Da er die Vorder- und Rückseiten der Blätter bedruckt, vergißt er beim Zählen immer wieder, ob er die andere Seite des Blattes schon erfaßt hat und beginnt von vorne. Die Schlange hinter mir ist schon geschrumpft. Einige Anwälte mußten wohl zum Termin. Das Stöhnen der Wartenden in meinem Rücken bei jedem neuen Ansatz zum Zählen wird mir langsam unbehaglich. Die Waffenkontrolle am Eingang hat doch ihren Sinn. Der Kettenknecht stellt den Freistempler auf 615 DM. Ich atme auf.

            Es ist viertel zwölf. Das Paket mit den Geldscheinen paßt nicht durch den Schlitz. Ich blättere meine Schätze auf und gebe sie durch. Ich überlege, was ich tue, wenn der flinkfingrige Rechenkünstler auf der anderen Seite der Panzerglasscheibe an der Echtheit der Scheine zweifelt. Er hat aber keine Zweifel, jedenfalls sprechen die Schweißperlen auf seiner Stirn davon, daß er den Vorgang und mich endlich loswerden will. Er zählt noch nicht einmal die fünf Bündel zu jeweils 10.000 DM in Hundertmarkscheinen nach. Er ist doch nicht so nervenstark.

            Die Schlange hinter mir ist verschwunden. Während ich zusammenpacke, betritt ein Mann den Kassenraum. Ein Kirchenaustritt, sechzig Mark. Draußen hat der Regen aufgehört.

26. November 2001 – 10. Januar 2023

Matthias Alexander Wolf

Der rüstige Eisenbahner

Der rüstige Eisenbahner

Eine Erzählung

Dies ist die Geschichte des Eisenbahnhauptsekretärs a. D. Erwin Butzlaff. Zwei Abenteuer sind es, die ihm in seinem Leben begegnet sind und beide hat er nur knapp überlebt. Jedesmal war er Opfer, aber das zweite Abenteuer machte ihn in seinen Augen zum Helden und brachte seinen Lebensabend zum Strahlen.

Das erste Abenteuer bestand in seiner Flucht aus Hinterpommern vor der Roten Armee, die ihn unter viel Mühsal und Gefahren nach Südwestdeutschland führte, wo er, im Straßengraben liegend, einen Tieffliegerangriff nur mit Glück überstand. Ein Stein drückte ihn. Er schob sich ein wenig auf die Seite, als eine Handbreit neben ihm, da wo er gerade noch gelegen hatte, Geschosse eines Bordmaschinengewehrs einschlugen.

Das zweite Abenteuer bestand er mehrere Jahrzehnte später.

Er war gerade sechzig Jahre alt geworden, als seine Gertrud, die er seit vielen Jahren nur noch „Mutti“ nannte, plötzlich verstarb. Die beiden Kinder waren aus dem Haus und lebten weit entfernt. Gertrud hatte sich immer um alles gekümmert und sie fehlte ihm so sehr, daß es schmerzte. Obwohl der obere Stock vermietet war, erschien ihm das Haus, das er aus den Mitteln des Lastenausgleichs in Eigenarbeit und mit der Hilfe andrer pommerscher Flüchtlinge gebaut hatte, zu groß und zu leer.

Eine Beförderung hatte er nicht mehr zu erwarten. Der bahnärztliche Dienst erkannte, daß seine Rückenschmerzen von den ergonomisch ungünstigen Bürostühlen herrührten, auf denen er jahrzehntelang hatte sitzen müssen. Damit handelte es sich um eine Berufskrankheit, was ihm ermöglichte, ohne Kürzung seiner Ruhebezüge mit 62 Jahren in Pension zu gehen.

Jetzt fühlte er sich noch einsamer. Auch die Arbeit in seinem großen Garten half ihm nicht. Und sonntags vermißte er den pommerschen Apfelkuchen, den Mutti so gut wie keine andere hatte backen können.

Sein Freund und ehemaliger Arbeitskollege Karl-Albert riet ihm zu einer Kur, um wieder auf andere Gedanken zu kommen. Tatsächlich wurde Erwin trotz Ruhestands eine Rehabilitationsmaßnahme wegen seines Rückenleidens bewilligt.

In der Reha-Klinik fand er schnell Anschluß an eine Gruppe von Männern in seinem Alter. Man hatte viel Zeit zwischen Behandlungen und Anwendungen und die Gespräche kreisten nicht nur um Fußball, Autos und Politik. Die Patientinnen waren im Sanatorium in der Überzahl. Die Kollegen hatten alle weibliche Gesellschaft und prahlten mit ihren Abenteuern.

Die männlichen Gefühle Erwins, die in der Einsamkeit seines Hauses nach Muttis Tod fast abgestorben waren, wurden durch die Histörchen seiner Mitpatienten neu belebt. Wohl hatte er schon einiges über die lockeren Sitten bei Kuraufenthalten gehört. Was die Kollegen aber so erzählten, erschien ihm trotzdem, selbst wenn nur die Hälfte stimmte, unglaublich.

Das Zwicken im Rücken müßte kein Hindernis sein, dachte er sich und erkundigte sich bei nächster Gelegenheit bei einem seiner Tischnachbarn vertraulich, was denn mit Frauen so ginge. Reinhold war in dieser Hinsicht sehr gut versorgt und gab ihm deshalb gerne den entscheidenden Tip.

„Horst ist doch gestern abgereist. Da ist Roswitha wieder frei. Kennst du sie nicht? Das ist die schärfste Sechzigjährige, die ich je gesehen habe. Die Karosserie noch gut in Form, am Lack nur ein paar kleine Rostflecken, alles in allem für die Laufleistung noch top in Schuß.“

Reinhold hatte eine Autowerkstatt und handelte auch mit Gebrauchtwagen.

„Ich kenne sie aber gar nicht näher. Wie soll ich denn das anstellen?“

„Ich merke schon, du warst immer brav bei der Mutti, dir fehlt da die Erfahrung. Laß mich mal machen. Ich regle das.“

Reinhold hatte den Bogen raus. Der Kontakt war schnell hergestellt.

Rosemarie, die ihr Alter niemandem verriet, die Sechzig jedenfalls schon deutlich überschritten haben musste, war immer noch sehr attraktiv; vollbusig, aber sonst recht schlank, mit regelmäßigen Gesichtszügen und wallenden schwarzen Locken. Ihre Kleidung und ihr Benehmen waren, zumal für eine Frau ihres Alters, etwas zu aufreizend, aber das erregte Erwin eher, als daß es ihn störte.

Sie fand Erwin ganz passabel aussehend – er hatte noch einen Rest seiner früheren Figur als ehemaliger Aktiver im Kraftsportverein behalten –, Roswitha nahm auch die Worte „Beamter“ und „Pension“ wohlgefällig auf und so wurden sie schnell ein Pärchen, landeten sogar noch am selben Abend hinter den Büschen. Beim Warten vor dem Massageraum erzählte Erwin den anderen am nächsten Tag sein Abenteuer.

„Roswitha ist wirklich eine Granate. Ich hab‘s ja gern, wenn an einer Frau obenrum was dran ist, meine Gertrud hatte auch ganz schön was zu bieten. Aber Rosemarie, da blieb mir die Spucke weg. So etwas habe ich noch nie erlebt. Wißt ihr, mit Gertrud war es immer im Dunkeln und unter der Decke. Und dann das. Im Freien, man hätte uns sehen können! Das war für mich das größte Abenteuer seit Krieg und Vertreibung.“

Erwin war Roswitha im Nu verfallen, wie verhext. Die Kur war für ihn unwirklich. Manchmal erwachte er frühmorgens und wußte in seinem Dämmerzustand nicht, ob er seine neuen Erfahrungen und Erlebnisse mit ihr nur geträumt hatte. Er fühlte sich als Mann, als ganzer Kerl. Die jahrzehntelange Routine der Arbeit und des Zusammenlebens mit Gertrud war vorüber. Auch die Zeit der Niedergeschlagenheit und Trauer des Witwers war vorbei. Voller Farben war die Welt auf einmal, die Pensionierung das Tor zu einem Meer großer Freiheit und Unabhängigkeit. Er fühlte sich als Kapitän des Dampfschiffs seines Lebens, stand auf der Brücke und schaute mit zugekniffenen Augen auf die im Sonnenlicht gleißende blaue See. Aus einer Laune heraus kauft er sich in einem Andenkenladen eine weiße Kapitänsmütze, setzte sie immer öfter auf und trug sie gerne zu einem dunkelblauen Blazer, wenn er mit Roswitha tanzen ging. Sie hakte sich dann, stolz über ihren stattlichen Galan, bei ihm unter.

Nach der Entlassung aus der Kur hielt er es keine Woche zuhause aus und fuhr für einige Tage die vierhundert Kilometer zu ihr. Ihre Wohnung war klein und in einem etwas heruntergekommenen Stadtviertel gelegen. Vergeblich versuchte er sie zu überreden, zu ihm zu ziehen. Sie zierte sich, erfüllte ihm nachts nichtsdestoweniger alle seine Wünsche, und schickte ihn nach zwei Tagen und Nächten nach Hause, weil sie sich dies gründlich und in Ruhe überlegen müßte. Er gehorchte, reiste ab, wurde aber daheim wie rasend vor Verlangen nach ihr und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Noch nicht einmal die Gartenarbeit, die er immer geliebt und die oft Gleichgewicht in sein Gemüt gebracht hatte, vermochte ihn abzulenken. Schon nach einer Woche machte er sich wieder auf zu ihr. Sie empfing ihn so wie er es sich erträumt hatte, zeigte aber keine Anstalten, zu ihm zu ziehen.

Endlich ließ sie sich zu einem Besuch bei ihm überreden. Sie besichtigte eingehend das Haus, interessierte sich sehr für seine Vermögensverhältnisse und seine, wie er selbst mehrfach betont hatte, „schöne Pension“. Erwin hatte Oberwasser und gab prahlend Auskunft. Seine geschlechtlichen Bedürfnisse wurden nach wie vor zu seiner völligen Zufriedenheit erfüllt und er las Roswitha jeden Wunsch, von denen sie mancherlei hatte, von den Lippen ab. Auch die Kosten für die vierwöchige Kreuzfahrt in der Karibik wurden von ihm großzügig übernommen.

Er berichtete seinen Kegelbrüdern: „Stellt euch vor, wir haben vor der Abreise den ersten Smoking meines Lebens gekauft. Das heißt, gleich zwei, einen schwarzen und einen weißen. Sowas Vornehmes wie auf dieser Kreuzfahrt hatte ich vorher noch nie erlebt.“

Roswitha behielt ihre Wohnung bei, blieb aber nach der Rückkehr von der Kreuzfahrt zunächst bei Erwin. Was ihr an Garderobe fehlte, kaufte er ihr. Aus Angst, sie würde nicht mehr mit ihm zurückfahren wollen, fand er tausend Ausflüchte, um sie von einer Fahrt zu ihr nach Hause abzubringen.

Als Erwin dann wieder das Thema eines „richtigen“ Zusammenziehens anschnitt, zeigte sich Roswitha besorgt und traurig:

„Ich liebe dich so sehr, mein großer starker Bär, aber ich habe auch meine nette, gemütliche Wohnung, die ich aufgeben müßte. Wenn dir etwas zustoßen würde, wäre ich mittellos und stünde auf der Straße, ganz verlassen. Ich möchte so gerne bei dir bleiben und immer für dich da sein, aber du mußt auch verstehen, wenn ich alles für dich aufgebe, dann müßtest du auch ein wenig für mich sorgen. Das siehst du doch ein, nicht wahr mein Bärchen?“

Die kleine Formalität einer Kontovollmacht für Roswitha war bei der Sparkasse am nächsten Morgen schnell erledigt. Die Mitarbeiterin dort, die auch schon etwas älter war, Erwin seit vielen Jahren kannte, und welcher der aufwändige Lebensstil ihres Kunden nicht entgangen war, hatte ein wenig die Brauen hochgezogen und gesagt:

„Ihnen ist bewußt, Herr Butzlaff, daß Frau Roswitha Lebedeern mit dieser Vollmacht über Ihr gesamtes Vermögen verfügen kann?“

Roswithas Blick traf die Bankmitarbeiterin wie ein mit Curare vergifteter Pfeil aus einem Blasrohr, als Erwin auch schon antwortete:

„Natürlich, das soll so sein.“

Die Angestellte, die auch seine Kinder hatte aufwachsen sehen, verkniff sich eine Bemerkung, was diese wohl zu der Vollmacht sagen würden.

Bei seinen Kegelbrüdern war er der Matador, sie bewunderten und beneideten ihn. Erwin zeigte keinerlei Scheu, seinen Kumpanen gegenüber auch intimste Details offenzulegen. Er genoß es vielmehr. Seine Jugend war in den Kriegswirren untergegangen. Jetzt fühlte er sich als junger Wilder.

Ein oder zwei Wochen später waren sie gerade im Bett. Erwin hatte sie wieder einmal bekniet, bei ihm fest einzuziehen, sie hatte nicht reagiert und dies war es, was ihn in dem Moment erregte. Er begann sie zu streicheln.

„Laß uns ein Nümmerchen machen“, grummelte er.

Da stieß ihn Roswitha ganz plötzlich zurück, zog ein Lolita-Schnütchen und erklärte ihm mit Kleinmädchenstimme, sie hätte ihm etwas mitzuteilen.

„Du weißt, ich liebe nur dich, mein großer starker Eisenbahnbär, aber als ich zuletzt bei mir zuhause war, hat mir Norbert einen ernsthaften Antrag gemacht. Er ist ein gutsituierter Geschäftsmann und sieht auch ganz gut aus, natürlich nicht so gut wie du und so kräftig ist er auch nicht. Seine Villa ist allerdings sehr hübsch, das muß man schon  sagen. Er fährt keinen Manta wie du, sondern einen Porsche und scheint eine Menge Geld zu haben. Du brauchst dir wirklich keine Gedanken zu machen, Norbert interessiert mich nicht und aufs Geld kommt es mir nicht an. Aber wenn wir zusammenleben, muß ich doch auch versorgt sein. Oder hast du keine ernsthaften Absichten und suchst nur deinen Spaß?“

Erwin war gerade ziemlich erregt und wollte zum Zug kommen.

„Nein, nein, natürlich ist es mir ernst. Das weißt du doch, mein Zuckerschnütchen.“ Er drückte ihr einen ziemlich feuchten Kuss auf die Lippen.

„Wenn ich jetzt alles aufgebe und mich um dich kümmere – und das willst du doch, nicht wahr mein Bärchen? Dann hoffen wir ja, daß dies viele Jahre so weitergeht. Aber wenn dir dann doch einmal etwas passiert – wir müssen realistisch sein – dann stehe ich vor dem Nichts und muß beim Sozialamt betteln gehen.“

Erwin fragte nicht, wovon sie bisher gelebt hätte und leben würde, wenn sie sich nicht kennengelernt hätten. Er schaut nur in Ihre großen braunen Augen.

„Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. So wie du für mich sorgst, sorge auch ich für dich. Ich werde mein Testament ändern.“

„Diese Nacht war himmlisch. Sie hat mich so verwöhnt …“, schwärmte er wenige Tage später seinen Kegelbrüdern vor.

Als er das Testament geändert hatte, nahm es Roswitha an sich und fuhr zu sich nach Hause, weil sie dort nach dem Rechten sehen mußte. Er sollte nicht mitkommen, sie wollte ein wenig für sich sein und sich auch mit ihrer guten Freundin Helga treffen, um mit ihr ein paar Tage zu verbringen. Sie fehlte ihm aber sehr, daher fuhr er ihr eine Woche später nach und besuchte sie.

Roswitha und Helga schienen unzertrennlich zu sein. Helga war in etwa Roswithas Ausgabe in Blond, üppig gebaut und auffällig geschminkt. Sie trug am liebsten hautenge Oberteile in Leopardenmuster. Roswitha erzählte ihm, Helga sei alleinstehend und auf der Suche nach einem Mann. Sie wälze sich häufig zu schwerer Musik auf dem Teppich. Erwin bekam große Augen und entwickelte Phantasien. Diese wurden nur in der Anfangsstufe erfüllt. Er durfte die zwei zu einem feudalen Abendessen einladen, war danach leicht beschwipst und machte sich Hoffnung auf mehr. Nach dem Essen gab ihm Roswitha ihren Wohnungsschlüssel und sagte ihm, er könnte jetzt nach Hause gehen. Sie und Helga hätten noch in Ruhe etwas zu besprechen, sie würde dann bei Helga übernachten. Roswitha gab ihm einen Gute-Nacht-Kuß, Helga drückte ihn fest an ihren gewaltigen Busen, tätschelte ihm die Wange und sagte:

„Jetzt geh du mal schön nach Hause mein Bübchen und schlaf gut. Du hast ja wohl ein bißchen zu viel getrunken, nicht wahr, du Schlimmer?“

Er hatte nicht mehr getrunken als die beiden Damen, denen nichts anzumerken war.

Am nächsten Abend im Bett sprach Roswitha davon, sie sollten zu einem Notar gehen, damit das Testament auch wirklich rechtsgültig wäre. Sie kennte da jemanden, einen Rechtsanwalt und Notar, schon seit langem übrigens, und der hätte ihr zu einem Erbvertrag geraten.

„Das kostet eine Menge Geld und ist doch unnötig. Ein Testament ist auch so gültig“, wußte Erwin Bescheid.

„Man kann da aber eine Menge Formfehler machen und dann kommen deine Kinder, fechten das Testament an und ich stehe vor dem Nichts. Das willst du doch nicht, Oder hast du mir etwas vorgelogen? Den Notar kenne ich gut und schon sehr lange. Er wird beim Honorar beide Augen zudrücken.“

Erwin wurde eifersüchtig, fürchtete, sie könnte ein Techtelmechtel mit dem Notar haben, und wollte lieber zu seinem Notar gehen, den er auch schon lange kannte. Eine Woche später packten sie ihre Sachen, Erwins Manta wurde vollgeladen und Erwin fuhr mit Roswitha zu sich nach Hause.

Der Notar war in Urlaub. Zu seinem Vertreter wollte Erwin nicht gehen. Danach war es schwierig, Termine zu bekommen und Erwin zeigte auch keinen besonderen Eifer in dieser Hinsicht.

Eines Morgens richtete Roswitha Erwin besonders liebevoll ein Frühstück. Sie kochte ihm ein Ei, wachsweich, wie er es gerne aß, schnitt ihm eine Tomate auf, arrangierte alles sehr nett und bereitete ihm seinen Lieblingstee zu. Er freute sich, frühstückte mit Appetit, fand nur den Tee etwas zu stark gesüßt. Sonst gab er sich immer selbst den Zucker in die Tasse. Anschließend wollte er etwas im Garten arbeiten und am Abend würden sie gemeinsam gepflegt essen gehen. Er besuchte nicht mehr das Vereinslokal der Kleintierzüchter „Zur Hühnerleiter“, wo es so schön große Schnitzel gab. Roswitha lehnte diese Wirtschaft ab und bestand darauf, in der Trattoria „Da Luigi“ zu speisen, auch wenn es dort dreimal so teuer war. Er hatte den Verdacht, daß der Grund nicht die gute Küche, sondern Luigi war.

Kaum hatte er sein Frühstück beendet und die Gartengeräte gerichtet, als Erwin auch schon starke Leibschmerzen verspürte. Er ging ins Haus, fünf Minuten später legte er sich, von Krämpfen geschüttelt, auf die Couch. Roswitha hatte sich zu einem Einkaufsbummel verabschiedet. Weil die Schmerzen ihm schier die Gedärme zu zerreißen schienen, schleppte er sich zum Telefon und wählte den Notruf.

„Kommen Sie schnell, ich habe plötzlich fürchterliche Leibschmerzen. Ich habe das Gefühl, von innen her zu verbrennen.“

Mit Roswithas Rückkehr war so schnell nicht zu rechnen. Als ihm klar wurde, daß seine Rettung vielleicht zu spät käme, wenn der Notarzt vor der geschlossenen Haustüre stünde und erst weitere Hilfe herbeigerufen werden müßte, raffte er sich, wie ein Hund vor Schmerzen heulend, auf. In seinem Kopf drehte sich alles, Arme und Beine gehorchten ihm kaum noch. Im Flur torkelte er von einer Wand gegen die andere und schaffte es gerade noch mit letzter Kraft, die Haustür zu öffnen. In der offenen Tür brach er zusammen, Magen, Darm und Blase entleerten sich unkontrolliert. In seinen Exkrementen liegend wartete er auf das Eintreffen des Notarztes, verlor schließlich das Bewußtsein und wäre an seinem Erbrochenen erstickt, wenn der Rettungswagen nicht gerade noch rechtzeitig eingetroffen wäre.

Nach einer Erstversorgung durch den Notarzt und Behandlung im nächstgelegenen Krankenhaus wurde er per Hubschrauber in eine spezialisierte Vergiftungsklinik verlegt. Zwei Wochen lang war sein Zustand sehr kritisch. Mit Roswitha hatte er in dieser Zeit telefonisch Kontakt, sie kam ihn aber nicht besuchen, da sie keinen Führerschein hatte. Nach drei Wochen kam sie dann mit ihrer Freundin Helga.

Erwin freute sich wie ein kleiner Bub, als sie ihn endlich besuchen kam.

Sie brachte ihm abgepackte Blumen von der Tankstelle mit und zeigte sich über seinen Zustand sehr besorgt. Dann ließ sie ihn wissen, sie hätte den Hausflur gründlich geputzt, was sie sehr geekelt hätte, hätte aber trotzdem drei Tage lang den Geruch nicht aus dem Haus bekommen. Seine Frühstückswurst wäre ja offensichtlich verdorben gewesen. Sie hätte es ihm gesagt, er sollte sie wegwerfen, aber er mit seinem Sparfimmel könnte nicht hören. Das hätte er jetzt davon. Sie gab ihm seine Schlüssel zurück und fuhr mit Helga davon.

Wenige Tage darauf kamen zwei Kriminalbeamte ins Krankenhaus, um Erwin Butzlaff zu vernehmen. Sie fragen ihn, ob er in seinem Garten Unkrautvernichtungsmittel verwendete, was er bejahte. Es müßte noch eine fast volle Flasche von „Unkraut-Adieu“ in der Garage auf dem zweiten Regal von oben stehen.

Die Polizei durchsuchte die Garage und Butzlaffs Haus, fand aber keine Reste von „Unkraut-Adieu“.

Erwins Gesicht war noch recht gelb, als er in der Kanzlei vorsprach und die Auszubildende ihm öffnete. Er hielt den Atem an und fragte sie mit eingezogenem Bauch:

„Steht mein Wagen auch sicher auf Ihrem Parkplatz? Ich habe mir heute morgen nämlich neue Leichtmetallfelgen an meinen Manta anbringen lassen und ganz neue Reifen drauf. Extrabreite Schlappen!“

In seiner beigefarbenen Anglerweste mit den zahlreichen praktische Außentaschen kam er sich sehr verwegen vor. Lea Scharschmidt antwortete mit etwas Unverständnis, es sei noch nie irgend etwas vorgekommen und fragte nach vereinbartem Termin und Anliegen.

„Nein, einen Termin habe ich nicht so direkt, aber ich müßte dringend mit dem Anwalt sprechen. So eine hübsche junge Frau wie Sie kann doch bestimmt beim Chef ein gutes Wort für mich einlegen.“

Er tätschelte ihr den Arm, sie trat mit gerunzelter Stirn einen Schritt zurück.

„Worum geht es denn?“

Er blähte die Nüstern und antwortete: „Um Mord.“

„Oh, nehmen Sie bitte einen Moment Platz. Ich schaue nach.“

Eine Minute später bat ihn Rechtsanwalt Steinbacher in sein Büro.

„Was kann ich für Sie tun Herr …“

„Butzlaff, Erwin Butzlaff. Es handelt sich um einen Mord.“

Er strahlte.

„An wem, wer ist das Opfer?“, wollte Steinbacher wissen, verwundert über den Glanz in Butzlaffs Augen.

„Ich selbst.“

Er schaute, immer noch strahlend, rechts und links, als ob er Beifall erwartete.

Ungefragt und bevor Steinbacher herausfinden konnte, was Erwin Butzlaff von ihm wollte, legte dieser los und erzählte genüßlich seine Geschichte wie ein Bächlein, das mäandernd und gluckernd gemächlich zu Tal fließt.

„Jetzt habe ich Post von der Staatsanwaltschaft erhalten und da dachte ich, es wäre Zeit, mir einen Rechtsanwalt zu nehmen.“

„Zeigen Sie mal her!“

Butzlaff kramte das Schreiben aus seiner Tasche.

„In dem Ermittlungsverfahren gegen Lebedeern, Roswitha“, stand da, „geb. Schmidtke, gesch. Pellworm, verw. Amthor, geb. 18.4.19 … in … wegen Verdachts des versuchten Mordes u. a. Geschädigter, Butzlaff, Erich, werden Sie zur Vernehmung als Zeuge vor der Staatsanwaltschaft am … geladen.“

„Was soll ich jetzt machen“, fragte Butzlaff ein wenig unsicher. „Muß ich da hin?“

„Sie müssen im Moment überhaupt nichts tun. Ich werde mit dem Staatsanwalt sprechen und mich um alles kümmern.“

Erleichtert, weil er wieder einmal seine Geschichte losgeworden war und sich jetzt der Anwalt um den Fall kümmerte, stieg Erwin wieder in seinen Manta.

Steinbacher sprach lange mit dem Staatsanwalt.

„Roswitha Lebedeern ist in ihrer Heimatstadt meinen Kollegen schon seit Jahrzehnten keine Unbekannte mehr. Bis sie zu alt dafür wurde, hat sie als Prostituierte gearbeitet. Im Register stehen mehrfache Vorstrafen wegen kleinerer Delikte, Diebstähle, Betrug an Freiern, denen sie das Geld abknöpfte, daraufhin verschwand und die Männer mit einem Pornoheftchen im Zimmer sitzen ließ, und dergleichen. Ihre Freundin, Helga Plaßmann, ist noch ein ganz anderes Kaliber. Sie wurde nicht nur wegen verschiedener kleinerer Straftaten verurteilt, gegen sie wurde auch einmal wegen Mordes durch Vergiftung ermittelt. Letztlich konnte ihr aber die Tat zur Überzeugung der Großen Strafkammer nicht nachgewiesen werden. Die weiß wie‘s geht.“

„Butzlaff war über drei Monate in Kliniken. Er gibt sich zwar sehr munter, hat aber irreparable Organschäden an Leber und Nieren davongetragen und ist sehr gelb im Gesicht. Ich bin kein Arzt, aber ich fürchte, er könnte versterben, bevor man der Lebedeern den Prozeß machen kann.“

„Ich werde seine richterliche Vernehmung beantragen“, entgegnete der Staatsanwalt. Dann kann die Aussage im Prozeß gegen Lebedeern auch dann verwertet werden, falls Butzlaff nicht mehr vernehmungsfähig oder verstorben ist. Sie bekommen Post. Aber sagen Sie Butzlaff nicht den wahren Grund für seine richterliche Vernehmung. Lassen Sie sich etwas einfallen, das könnt ihr Rechtsanwälte doch.“

„Klar! Ich habe den Mandanten im Griff.“

Freudig erregt ging Erwin, von Steinbacher begleitet, drei Wochen später zum Amtsgericht. Seine Miene verdüsterte sich zusehends, als er feststellte, daß der Richter nicht willens war, sich seine Geschichte in aller Ausführlichkeit anzuhören und abzudiktieren. Nur einmal glühten seine Augen noch:

„Herr Richter, ich habe durch Roswitha die französische Liebe kennengelernt!“

Steinbacher konnte sich ein Lachen kaum verkneifen, der Richter hatte sich jedoch wunderbar in der Gewalt und sah davon ab, diese Einlassung in der Vernehmungsniederschrift zu vermerken.

Einige Zeit später kündigte Erwin Butzlaff das Mandat, weil Steinbacher zu wenig unternähme.

Erwin Butzlaff klammerte sich an seine Rolle als Held. Die Tragödie und seine wirkliche Rolle darin wollte er nicht wahrhaben. Er suchte weiterhin den Kontakt zu Roswitha und hätte sie, wäre sie zurückgekommen, jederzeit liebend gerne wieder aufgenommen. Sein Heldenepos aber wollte er gerne öfter erzählen und wechselte deswegen noch zweimal den Anwalt. Jedesmal wurde es für ihn teurer, wie Steinbacher dann später zufällig auf dem Gerichtsflur erfuhr.

Vielleicht, sagte er sich, hat Butzlaff die Lebedeern tatsächlich geliebt und liebt sie noch. Sie war das Glanzlicht seines Lebens, hat ihm allerhand Abenteuer und durch die Zeitungsberichte örtliche Berühmtheit gebracht. Er wird seine Heldenrolle benötigen, um sich der Enttäuschung nicht stellen zu müssen. Wer weiß schon, wie es in seinem Innenleben aussieht.

 Erwin Butzlaff lebte danach nicht mehr lange. Er starb indessen nicht an den Folgen seiner Vergiftung.

Bei strömendem Regen platzte auf der Autobahn bei Tempo 160 einer seiner „breiten Schlappen“. Er verlor die Herrschaft über den Manta und prallte gegen die Mittelleitplanke. Es folgte eine Massenkarambolage. Unterwegs zu Roswitha starb Erwin Butzlaff noch am Unfallort.

Roswitha schützte gegenüber dem Gericht zahlreiche Erkrankungen vor. Damit zog ihr Verteidiger, ein Rechtsanwalt, der in Justizkreisen als „Rotlicht-Paul“ bekannt war, und dem man das Notariat wegen unsauberer Amtsführung vor kurzem abgenommen hatte, das Verfahren noch zwei Jahre hinaus. Dann erfolgte die Einstellung wegen Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten.

(Ex-)Schneewittchen und Schnabeltasse oder die zweite Attacke

Hochverehrtes Publikum!

Die Liebesgeschichte, welche ich Ihnen jetzt darstellen werde, ist unverrückbar wahr, so wahr, wie die Fixsterne am Himmel befestigt sind, und so voller wunderlicher Geschehnisse, daß mancher glauben mag, sie sei in einer milden, klaren Sommernacht unter funkelndem Sternenhimmel nach dem Genusse etlicher Gläser frischen Weines beim Gesange der Zikaden, umleuchtet von lautlos huschenden Glühwürmchen, ersonnen.

Nichts davon! „Was ist Wahrheit?“ fragte Pilatus schon sich und die Juden. Die Frage ist bis heute ungeklärt. Wir wollen gleichwohl das Beackern solch steiniger Felder stärkeren Geistern überlassen.

Genug der Vorrede! Bühne frei, wir beginnen!

Als Bühnenbild dient uns eine Frankfurter U-Bahnstation. Einziges Requisit: ein Fahrkartenautomat. Jawohl, einer dieser grün-bläulichen Blechkästen, deren Farbe, für die ich keinen Begriff weiß, so gar nichts Romantisches hat.

Hermann-Joseph – bitte ihn immer mit beiden Vornamen ansprechen und im Schriftverkehr korrekt auf das schicke „ph“ am Josephsende achten, bitte sehr – Hermann-Joseph also steht eines grauen, kühlen Spätherbsttages in der U-Bahnstation am Fahrkartenautomaten. Vor ihm ist eine Dame, deren rückwärtige Ansicht durchaus das Interesse Hermann-Josephs (bitte auch hier in der gebeugten Form des zweiten Falles das „ph“ nicht vergessen!) erweckt. Er langweilt sich daher auch nicht, als die Dame etwas umständlich und mühsam offensichtlich ihr letztes Kleingeld zusammenklaubt und in den Schlitz wirft. Es reicht nicht, sie muß den Vorgang abbrechen. Nach einigem Rattern und Klappern findet sie ihre Münzen im Ausgabefach wieder.

Was dies mit einer Liebesgeschichte zu tun habe, fragen Sie? Sehr viel, Sie werden es gleich sehen.

Nun versucht die Dame ihr Billett mit einem Geldschein zu bezahlen. Der Automat gibt ihr die Banknote dreimal zurück und behält den begehrten Fahrschein weiterhin für sich. Da schlägt Hermann-Josephs Stunde! Er hatte sich in der Zwischenzeit weiter vorgewagt und hat jetzt einen Blick auf das Profil der Dame erhascht. Donnerwetter, was für ein Profil! Das ihres Gesichts selbstredend, Hermann-Joseph ist ein feiner Herr. Da jene Konturen aber gehalten haben, was die rückwärtige Ansicht versprochen hatte, reitet er, der eigentlich sehr schüchtern ist – hierauf komme ich gleich noch zu sprechen –, eine Attacke, die ihm nicht allzu schwer fällt, da er als feiner Herr äußerst höflich und zuvorkommend ist: „Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, gnädige Frau, Schnabeltasse mein Name, Hermann-Joseph Schnabeltasse. Ja, ich weiß, mein Name ist etwas ungewöhnlich. Ich sehe Sie in Verlegenheit. Dürfte ich Ihnen vielleicht mit etwas Kleingeld aushelfen?“ Die Dame wendet sich ihm zu. Oh, diese Augen! Zwei übergroße Mandeln mit dunklen Pupillen richten sich auf ihn. Er fühlt sich getroffen, entflammt, versengt.

Liebes Publikum, Sie werden festgestellt habe, daß die Jugend unserer beiden Darsteller schon etwas fortgeschritten ist, sonst hätte man sich elektronischer Zahlungsmittel bedient. Verzeihen Sie die Unterbrechung, aber das gehört zum Thema.

Ihre ausdrucksvollen Augen voller Strahlkraft sitzen in einem hübschen, sehr bleichen Angesicht, welches unverkennbar einige Lebensspuren birgt. Die schwarzen Haare, nun ja, es ist nicht mehr die Naturfarbe, vervollständigen das Bild eines Schneewittchens, das schon eine erwachsene Tochter haben könnte, aber seinen Reiz über die Jahre bewahrt hat. „Das ist sehr aufmerksam von Ihnen, haben Sie herzlichen Dank!“ Hermann-Joseph scharwenzelt um die Dame herum. Verzückt wie er ist, entgeht ihm, daß die etwas piepsige Stimme Ex-Schneewittchens so gar nicht zu ihrem ausdrucksstarken Blick passen mag. Sie nimmt zwei Münzen von ihm entgegen, löst ihren Fahrschein und lächelt ihn dankbar an. Hermann-Joseph blickt sich um. Es ist niemand hinter ihnen. „Sind Sie fremd hier?“ fragt er sie, um den Faden nicht abreißen zu lassen. „Ja, ich will nach Sachsenhausen, ins Museum für Angewandte Kunst.“ „Ach, da haben wir ja den gleichen Weg!“ Hermann-Joseph schämt sich etwas und ist gleichzeitig stolz, daß er so unbefangen lügen kann. Sie treten ab und fahren mit der U-Bahn.

Szenenwechsel!

Unsere beiden Darsteller überqueren den Römerberg Richtung Eiserner Steg. Er gibt den Cicerone und referiert mit feuerroten Ohren Daten und Fakten. Wie gerne hätte er ihr etwas Persönliches gesagt.

Die Schüchternheit Hermann-Josephs ist Ihnen jetzt hinreichend bekannt, vielleicht haben Sie sich auch schon gedacht, er sei Junggeselle. Dieses Wissen reicht indessen nicht. Zum Verständnis der nun folgenden zweiten, der großen Attacke, sollte man darüber unterrichtet sein, daß Hermann-Joseph – wir nennen ihn immer noch korrekt bei seinen beiden Vornamen und gestatten uns keine Vertraulichkeit, wir unterschlagen auch das schicke „ph“ nicht –, daß Hermann-Joseph also vor einigen Monaten seinen ganzen Mut zusammengenommen und einen Psychotherapeuten aufgesucht hat, um seiner Schüchternheit ein Ende zu bereiten. Brüten Sie nicht zu Hause vor sich hin, gehen Sie raus und nehmen Sie die Dinge in die Hand, war der Rat des Fachmanns.

Erneuter Szenenwechsel!

Auf grobem Kopfsteinpflaster nähern sie sich dem Eisernen Steg. Ex-Schneewittchen hat etwas Mühe wegen ihrer Absätze. Hermann–Joseph bietet ihr galant den Arm. Er überlegt, ob sie nicht den Fahrstuhl nehmen sollten. Dann wäre er mit ihr allein auf engem Raum. Er könnte sie küssen. Aber wenn sie schrie? Auf jeden Fall könnte er versuchen, ihre Hand zu nehmen. Am Mainufer angekommen, passiert ein Malheur. Sie bleibt mit dem linken Absatz in der Straßenbahnschiene hängen und strauchelt. Er, wacker wie der Roland vor einem norddeutschen Rathaus, hält stand, und sie kommt wieder ins Gleichgewicht. Nachdem dieses Abenteuer bestanden ist, stehen sie vor dem Eisernen Steg. Sie will die Treppe nehmen, er, voller Hinterlist, weist auf eine Horde Jugendlicher, die gerade die Stufen rechts und links herunterströmt: „Man wird Sie umrennen, Gnädigste!“ Also warten sie am Glaskasten des Aufzugs, der gerade nach oben losgefahren ist, sie lächelnd, er innerlich vor Ungeduld kochend, auf dessen gemächliche Wiederkehr. Trotz der Kälte ist seine Stirn schweißnaß. „Ich mach’s, ich probier’s“, ermutigt er sich selbst. Endlich ist der Fahrstuhl wieder unten. Sie steigen ein. Die Tür will sich gerade schließen, als sich drei Radfahrer nähern. Sie bremsen scharf und einer steckt im letzten Moment noch seinen Vorderreifen in die Schiebetür. „Nehmen Sie uns noch mit“, sagt er gutgelaunt, es ist mehr Befehl als Frage. Die drei Sportsleute, Sturzhelme aufgesetzt und angetan mit bunter Allwetterkleidung, quetschen sich, natürlich mitsamt ihren edlen Gefährten, in die Kabine. Hermann-Joseph steht jetzt zwar recht eng bei ihr, aber so hatte er sich das nicht vorgestellt. Eine Fahrradkette streift sein Hosenbein. Er stöhnt. Sie blickt ihn lächelnd an und gibt ihm mit den Augen ein Zeichen: Nicht so schlimm! Sie riecht gut. Er kennt sich nicht aus, weiß nicht, ob das ein Parfum oder sonstwas ist. Aber der Duft gefällt ihm. Ihre Nähe gefällt ihm.

Oben angekommen bahnen sie sich zunächst ihren Weg durch einen Pulk von Touristen mit rotgefrorenen Nasen, die ausgiebig mit ihren Stöckchen hantieren, um Photos von sich selbst zu machen. Zweimal wird er gebeten, wildfremde Leute abzulichten. Er tut es nur ihr zuliebe. Er ist aufgeregt, verliebt, ihm geht es schlecht und euphorisch ist er auch noch. Dem Osteuropäer, der immer hier mit seiner Ziehharmonika sitzt, immer das gleiche Stück – und dieses auch stets falsch – spielt, wirft er heute Geld in den Hut. Sonst hastet er regelmäßig vorbei und schaut auf die andere Seite, wenn der Straßenmusiker seine schadhaften Zähne bleckt und freundlich grüßt.

Sie sind schon ein gutes Stück über den Eisernen Steg gegangen, das Museum für Angewandte Kunst scheint ihnen geradezu entgegenzukommen und Hermann-Josephs Herz schrumpft und pulst schnell wie ein Mäuseherz. Ob er jetzt vorgeben soll, das Museum sei auch sein Ziel? Angewandte Kunst, was ist das eigentlich? Der Weg schmilzt, die Zeit vergeht und Hermann-Joseph ist verzweifelt. Längst hat er seine Erläuterungen als Fremdenführer aufgegeben. Sie gehen stumm nebeneinander her. Noch nicht einmal sein großes Aß hat er ausgespielt. Er kann die altgriechische Inschrift auf dem Pfeiler auch ohne Hilfe selbst lesen und übersetzen! Indes, in seiner Bangigkeit übersieht er sie und starrt nur vor sich hin.

Wertes Publikum! Entschuldigen Sie die erneute Unterbrechung, aber ich dringe in Sie, eilen Sie nicht zur Garderobe, sich Ihren Mantel zu holen. Jetzt kommt der entscheidende Wendepunkt! Wohin sich das Stück neigt, kann ich Ihnen freilich nicht verraten. Sehen Sie selbst!

Da kommt Hermann-Joseph der Rat des Psychologen in den Sinn. Also geht er, Hermann-Joseph Schnabeltasse, der lodernd in den Flammen der Liebe steht, die ihn wie ein Kugelblitz entzündet hat, ohne langes Nachdenken wie ein Mann aufs Ganze, und es fällt ihm auf einmal unerwartet leicht. Er reitet die zweite, die große Attacke: „Ich bin mir der Tatsache bewußt, daß meine Frage Sie etwas überraschen muß, aber – wollen Sie mich heiraten?“ Ex-Schneewittchen, wir wissen ihren richtigen Namen ja leider immer noch nicht, erstarrt im ersten Moment. Dann wird sie rot; Hermann-Joseph dagegen, dem jetzt erst klar wird, was er getan hat, wird blaß. Er fürchtet einen Zornesausbruch mit aus ihren Augen geschleuderten Phosphorpfeilen. Da beginnt sie zu lächeln, ja, sie lächelt verschämt, wie ein Schulmädchen, wie sie damals, vor vielen Jahren, lächelte, als Hans-Peter hinter der Turnhalle den Arm um sie gelegt und sie gefragt hatte, ob sie mit ihm gehen wollte. Sie atmet tief durch und antwortet Hermann-Joseph: „Vielleicht sollten wir mit einer Tasse Kaffee anfangen?“

Bad Homburg vor der Höhe, im November 2019

Matthias Alexander Wolf

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