Die Nagelschere

Verrat ist schändlich. Und mit einem Verrat an meinen Mitschülern führte ich mich im Herbst 1969 in die O III a ein.

1969 – den Jüngeren sei dies erklärt – waren lange Haare bei den Jugendlichen nicht nur beliebt, sondern unabdingbar, wenn man dazugehören und ernstgenommen werden wollte. Ich allerdings, der Neue in der Klasse, trug keine Beatles-Frisur, wie manche damals noch sagten. Ich trug einen Mecki, also ganz kurze Haare, die igelmäßig wie Stacheln abstehen; wie bei der Comic-Figur Mecki eben. Ein Meckikopf schloß eine Einladung zu Parties bei denjenigen, die in der Klasse den Ton angaben, unbedingt aus. Allein, einen kleinen Vorteil verschaffte mir mein Haarschnitt doch. Einige Mädchen liebten das Gefühl, mir mit der flachen Hand gegen den Strich über den geschorenen Kopf zu streichen. Ich hielt immer ganz still.

Nur langhaarige Jungs wurden von den Erwachsenen, vor allem durch die Männer, verächtlich als „Langhaarige“ bezeichnet (die Verwendung des Begriffs „Gammler“ war damals schon im Rückgang begriffen). Als mutmaßlich haschischrauchende Kommunisten (nun ja, wie dies mit Vorurteilen so ist – gelegentlich enthalten sie ein Körnchen Wahrheit, manchmal auch mehr) wurden sie als außerhalb jeder sittlichen Ordnung stehende Spezies betrachtet. Mädchen kamen ungeschoren davon (man wird später sehen, das Bild ist durchaus nicht schief). Langhaarig war man spätestens dann, wenn der Kopfbewuchs die Ohren bedeckte und im Nacken bis zum Kragen reichte. (Damals trug man noch Hemden in der Schule, die einen Kragen aufwiesen und so eine klare Grenze setzten, keine amerikanischen Unterhemden).

Fettige Haare waren zwar seinerzeit unter Jugendlichen äußerst verpönt. Dies hielt böswillige und übelmeinende Erwachsene indes nicht davon ab, lange Haare bei Knaben und jungen Männern mit fehlender Körperpflege und Läusen in Verbindung zu bringen.

Nach diesem Rückblick auf gesellschaftliche Zeitgeschichte als Exposition komme ich zum Verrat.

Direktor Dr. Schmidt war ein Erwachsener seiner Zeit. Die vermeintlicherweise oder tatsächlich mit üppigem Kopfbewuchs verbundenen Ansichten politischer und gesellschaftlicher Art waren ihm ein Greuel, weswegen er als nächstliegende Maßnahme danach trachtete, seine Schule von langhaarigen Jünglingen reinzuhalten. Sein pädagogisches Konzept, wenn man es denn so bezeichnen möchte, war einer vergangenen Epoche entsprungen. Die Methode, Macht durch das Erzeugen von Angst durchzusetzen, ist allerdings zeitlos.

Letzteres war seine pädagogische Krücke. Wenn er leise in eine Klasse trat, vergingen auch noch dem kecksten Schüler die frechen Späße. Manche hielten sogar den Atem an. Sein strenger Auftritt war zwar im Verbund mit seiner schnarrenden Stimme im Grunde eher lächerlich, aber das fiel uns damals nicht auf.

Eines Tages, im Herbst 1969 also, trat er in unsere Klasse. „Sitzenbleiben!“ Der Ruf genügt als Gruß. Hohe Nervosität herrschte bei den langhaarigen Schülern. Hektische Aktivitäten fielen auf. Haare wurden hinter Ohren drapiert, unter Hemdkragen gestopft.

Es ist mir bis heute unergründlich geblieben, warum ich an jenem Tage ein kleines Lederetui mit einer Nagelschere in meiner Schultasche mit mir führte. Es war mein erstes Erlebnis des Schmidt’schen Horrorstücks „Auftritt in einer Klasse“. Ich gebe zu, auch mir war der Mund trocken. Dr. Schmidt schnarrte, nachdem er auf das „Sitzenbleiben!“ eine angemessene und wirkungsvolle Pause hatte eintreten lassen: „Hat jemand eine Schere dabei?“ Er hatte dies sicher als rhetorische Frage gemeint und nicht damit gerechnet, eine bejahende Antwort zu erhalten. Ich tumber Knabe indessen dachte nicht weiter als meine Stoppelhaare reichten und kramte eilfertig meine Nagelschere aus der Tasche. Da ich in der letzten Bank saß, sah keiner meinen schamvoll erröteten Kopf, als bei mir endlich der Groschen gefallen war und ich zusehen mußte, wie Dr. Schmidt, dem ja nichts anderes übrig blieb, im Klassenzimmer nach vorne zur Tat schritt und zwei oder drei Mitschülern am Hinterkopf ein Büschel Haare absäbelte. Er stellte sich nicht besonders geschickt an, nahm zu viele Haare auf einmal in den Griff und die Schere war wohl auch etwas stumpf. Jedenfalls muss es für die Opfer schon etwas schmerzhaft gewesen sein.

Es hat mich keiner deswegen verprügelt, aber die Scham ist mir bis auf den heutigen Tag geblieben, und ich weiß auch, keiner aus der Klasse hat den Vorfall je vergessen.

Zur Strafe begann bei mir bereits ein Jahr später schon der Haarausfall, während einer der Beschnittenen, mit dem ich heute noch Kontakt habe, immer noch einen dichten Haarschopf trägt.

Und Dr. Schmidt? Was er tat, war auch damals schon verboten. Es hat ihn keiner angezeigt. Doch er trug nicht den Sieg davon. Sein Spiel mit der Angst war nicht nur lächerlich, wenn er meinte, Vierzehn- und Fünfzehnjährigen nicht anders beikommen zu können. Er war kein Herakles, sein Kollege Dr. Heckmann war auch kein getreuer und hilfswilliger Iolaos und so überwand er die Hydra der Langhaarigen nicht. Sie vermehrten sich schließlich kaninchengleich und, wie dies in der Natur so zu geschehen pflegt, irgendwann hat sich das Langhaarige in der Männermode dann von selbst reguliert.

Fast möchte ich unseren Direktor als tragische Figur bezeichnen. Damals freilich fürchteten wir ihn nur, er erregte nicht unser Mitleid. Im Abstand von über einem halben Jahrhundert sehe ich indessen den Vertreter einer Generation, der, als er wenige Jahre später starb, eine schon lange untergegangene Welt mit sich ins Grab nahm. Sein Versuch, sich dem Wandel entgegenzustemmen war sinnlos gewesen.

Matthias Wolf

Der Pralinenonkel

Samstags, kurz nach dem Mittagessen, war seine Zeit. Ich weiß nicht, wie oft er uns besuchen kam, vielleicht im Laufe der Jahre ein halbes dutzendmal: Onkel Otto, der Pralinenonkel.

Vater kam immer erst um halb drei Uhr von der Arbeit nach Hause und ich hatte, obwohl sonst ein ziemlich naiver Bub, den Eindruck, Onkel Otto käme hauptsächlich wegen meiner Mutter. Die beiden erzählten in der Küche, Mutter räumte auf. Wahrscheinlich war eher er derjenige, der erzählte, weil er etwas loswerden wollte, und Mutter hörte vor allem zu. Vielleicht half er ihr auch beim Geschirrabtrocknen. Das hätte uns von Pflichten entbunden und ihn uns Kindern noch sympathischer gemacht.

Die Attraktion seiner Besuche war die große Pralinenschachtel, die ihn zum „Pralinenonkel“ machte. Pralinen waren eine kostbare Seltenheit, die für die eigene Familie nie gekauft wurden. Nur großzügige Schenker brachten sie mit und trugen damit einen Hauch des Luxus in unser Heim. Selbst die größte Schachtel hält bei einer sechsköpfigen Familie nicht lange vor, und so wurde die Ausgabe der abgezählten Pralinen von Mutter vorgenommen. Der Charme der luxuriösen Welt verflog dabei auf der Stelle, denn es galt, standfest im Hier und Jetzt sein Interesse zu sichern. Marzipanpralinés waren die Favoriten der Kinder – und wohl auch der Mutter, die aber großmütig zurückstand. Schnapsbohnen wollte keiner.

Doch sind es nicht die Pralinen, weswegen Onkel Otto in den Tiefen meiner Erinnerung sitzt. Ich entsinne mich, wie ich an einem sonnigen Sommertag im Garten auf der Schaukel saß und durch die offenstehende Türe in die Küche blickte, in der sich Mutter mit Onkel Otto aufhielt. Ich sehe das Bild und spüre noch die Harmonie, die ich dabei empfand.

Onkel Otto war ein feingliedriger, zurückhaltender Mann mit schütterem braunen Haar, einer randlosen Brille und wasserblauen Augen. Er kam immer alleine. Die Tante, ich habe ihren Namen vergessen, war leidend, hieß es. Vielleicht kam sie aber auch nicht mit, weil sie mit meinen Eltern wenig anfangen konnte. Ich erinnere mich noch an ein Bild von ihr in Vaters Fotoalbum. Eine hübsche junge Frau mit einem runden Gesicht und einem kleinen Hütchen.

Onkel Otto war kein Verwandter, er war ein Nennonkel, ein Freund unserer Eltern, den ich mir nicht recht erklären kann. Mit den anderen Freunden unseres Vaters – Mutter pflegte keine eigenen Freundschaften – schien er nichts zu tun zu haben, er sprach als einziger Hochdeutsch, stammte offensichtlich nicht aus der Kurpfalz und hatte wohl eine gehobene Stellung inne, möglicherweise bei den Farbwerken Hoechst.

Später kam Vater vom Geschäft nach Hause. Er war seit sechs Uhr auf den Beinen, sicher müde und hungrig. Er begrüßte Onkel Otto verbindlich und riß den Gesprächsfaden an sich. Der Zauber der Harmonie war zu Ende.

Nach dem Kaffee fuhr Onkel Otto dann zurück. Er wohnte in Königstein im Taunus. Ich schaute nach, wo der Ort lag. Von Papa hatte ich Aral-Straßenkarten älterer Auflage. Königstein war als blauer Punkt dargestellt. Also gab es dort eine Aral-Tankstelle. Mehr wußte ich nicht von Königstein, das für mich etwas Exotisches hatte. Ich stellte mir vor, wie der Ort wohl aussähe, und malte mir eine Fahrt dorthin aus.

Seit meiner Kindheit hat Königstein im Taunus einen Reiz auf mich ausgeübt, der mir jahrelang nicht bewußt war. Las ich auf einer Käsepackung „i. T.“ zur Angabe des Fettgehalts, kümmerte mich als Kind die wirkliche Bedeutung der Abkürzung nicht. Mich erinnerte die Abkürzung jedesmal an Königstein i.T., im Taunus.
Irgendwann hörten die Besuche des Pralinenonkels auf. Jahre später bekam ich mit, die Tante sei verstorben. Vater hatte einen Kondolenzbrief an Onkel Otto geschrieben und dabei wohl den passenden Ton verfehlt. Onkel Otto war gekränkt und schien sich telefonisch bei Mutter beschwert zu haben. Wir haben nie mehr wieder etwas von ihm gehört.

Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal in Königstein war. Auf jeden Fall war ich schon längst erwachsen. Das Städtchen hat auch heute noch für mich eine besondere Anziehungskraft. Inzwischen glaube ich, sie liegt in der Erinnerung an die Harmonie jenes Samstagnachmittags im Sommer, als ich von der Schaukel aus in die Küche blickte.

Ein Umzug nach Königstein vor wenigen Jahren kam aus praktischen Gründen nicht in Frage. Das war gut so. Denn es hat mir die rätselhafte Anziehung des Ortes belassen. Gelegentlich, wenn mir danach ist, wenn der Zauber aus der Kindheit herüberscheint,  fahre ich von Bad Homburg nach Königstein, setze mich in der Hauptstraße in das Omacafé und stelle mir vor, daß Onkel Otto seinerzeit die Pralinen hier gekauft hat.

Matthias Alexander Wolf